Am 22. September wird das Volk über die Reform der beruflichen Vorsorge BVG entscheiden. Ist diese für Frauen ein Fort- oder Rückschritt?
Marlène Rast: Es ist eine traurige Feststellung, aber Frauen erhalten geringere Rentenleistungen als Männer. Die drei Ursachen sind seit Langem bekannt: Ihr Lohn ist im Durchschnitt immer noch niedriger, das geringere Arbeitspensum nach einer Mutterschaft beeinträchtigt den Aufbau des Rentenkapitals, und der BVG-Koordinationsabzug wirkt sich stark auf Teilzeitlöhne aus.
Mit der Reform des BVG sollen nicht die ersten beiden Ursachen angegangen werden, vielmehr will die Reform auf die Problematik des Koordinationsabzugs einwirken. Künftig wird die Versicherungsdeckung der zweiten Säule auf 80 Prozent des Lohns basieren, was einem Koordinationsabzug von 20 Prozent des Lohns entspricht.
Zum Beispiel kann sich das voraussichtliche Rentenkapital für eine volle Berufslaufbahn bei Löhnen, die über der BVG-Eintrittsschwelle liegen (CHF 19'845 pro Jahr gemäss der BVG-Reform), im Vergleich zur aktuellen Situation verdoppeln.
«Die BVG-Reform hat einen hohen Stellenwert, denn sie bedeutet einen echten Fortschritt für Frauen, aber auch für Familien und unkonventionelle Arbeitsplätze», sagt Marlène Rast, Leiterin Strategie Vorsorge bei der Groupe Mutuel.
Kritiker der Reform sagen, dass Frauen diese Erhöhung ihrer Vorsorge nicht selbst finanzieren sollten. Ist dieses Argument vertretbar?
Nein. In unserem System ist verankert, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermassen an der Verbesserung der Vorsorge beteiligt sind. Ebenso zeugt die Behauptung, dass die Rentenleistungen aus diesem neuen Ansatz begrenzt bleiben und sich nicht lohnen, von mangelndem Respekt gegenüber den Betroffenen.
Die Bildung von Ersparnissen, und seien sie noch so klein, ist ein erster Schritt auf dem Weg zur finanziellen Unabhängigkeit, der nach und nach ausgebaut werden muss. Andererseits hat sich in den heutigen Lebensstilen neben dem Modell der Mutter als Hausfrau auch das des Vaters, der sein Arbeitspensum reduziert, um sich an der Kindererziehung zu beteiligen, etabliert. Somit kommt der modernisierte Ansatz des Koordinationsabzugs dem Paar als Ganzes zugute.
Ausserdem profitieren auch Personen mit Mehrfachbeschäftigungen von der neuen Berechnungsmethode. Mit den aktuellen gesetzlichen Bestimmungen würde ein Arbeitnehmer mit einem Monatslohn von CHF 9000 (je CHF 3000 bei drei verschiedenen Arbeitgebern) aufgrund des Koordinationsabzugs, der auf die drei Arbeitsstellen angewendet wird, eine kumulierte Monatsrente von rund CHF 1000 erhalten.
Werden die ältesten Arbeitnehmer nicht doppelt geschont?
Derzeit benachteiligt die steigende vierstufige Sparskala ältere Arbeitnehmende auf dem Arbeitsmarkt. Mit dem Vorschlag der BVG-Reform in zwei Stufen – 9 Prozent des koordinierten Lohns zwischen 25 und 44 Jahren und 14 Prozent ab 45 Jahren – werden die Kosten, die direkt mit den letzten zehn Jahren der Erwerbstätigkeit verbunden sind, im Vergleich zu den derzeitigen 18 Prozent tiefer ausfallen. Zudem wurden Übergangsgenerationen definiert, die Rentenzuschläge erhalten werden, um das Leistungsniveau zu stützen. In diesem Punkt ist die Reform grosszügig: 15 Jahrgänge werden zusätzliche Zahlungen von CHF 200 pro Monat in den ersten fünf Jahren, danach CHF 150 und in den letzten fünf Jahren noch CHF 100 pro Monat erhalten.
Dieses Element wird von den Kritikern der Reform oft bestritten. Der Rentenzuschlag soll die Senkung des Umwandlungssatzes auf 6 Prozent ausgleichen, ist aber eine echte Verstärkung der Rente, die über das Ziel einer Ausgleichsmassnahme hinausgeht und hohe Kosten für die Vorsorgeeinrichtungen mit sich bringt. Es handelt sich hier um einen sozialen Kompromiss, den man hinnehmen muss, denn eine Reform geht zwangsläufig mit einigen Zugeständnissen einher.
Für die Generationen, die kurz vor der Pensionierung stehen, ist die Reform hingegen dringend erforderlich. In der Praxis ist die Reform im Hinblick auf den Umwandlungssatz bereits Tatsache. Aktuell gehen Neurentner mit bereits gekürzten Leistungen in den Ruhestand, aber ohne jegliche Übergangsmassnahmen.
Warum sollte die BVG-Reform akzeptiert werden?
KMU brauchen diese Reform. Wenn KMU Mitarbeitende über 55 Jahre beschäftigen, werden sie bei der Suche nach einem neuen Versicherer benachteiligt, der ihnen entweder kein Angebot macht oder die Mehrkosten für den zu hohen Umwandlungssatz in die Prämie einbezieht.
Bei der BVG-Reform geht es im Grunde darum, ob wir einen Schritt weitergehen wollen oder nicht. Eine weitere Weigerung, das BVG zu reformieren, wird die Probleme nur verlagern und die Vergessenen der Vorsorge für viele Jahre im Regen stehen lassen. Eine Reform ist selten perfekt und nie endgültig, aber sie ist das Startsignal auf dem Weg zu Verbesserungen.
Dieses Interview hat die Groupe Mutuel verfasst
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