«Bei vielen Arbeitsstellen kann ein reifes Alter ein Vorteil sein»

Weniger agil und nicht mehr so entwicklungsfähig: Dieses Bild herrscht in der Arbeitswelt von älteren Mitarbeitenden vor. «Das Schlimme ist, dass diese selbst daran glauben», sagt Unternehmensberaterin Elisabeth Michel-Alder. Deshalb ihre Vorschläge: Weg mit den Jahrgangsangaben und mehr Aktivismus gegen Altersdiskriminierung. Doch wie?

Elisabeth Michel-Alder im Portrait
Die Soziologin Elisabeth Michel-Alder beschäftigt sich mit dem Thema Alter in der Berufswelt.
Maja Sommerhalder

Frau Michel-Alder, die Welt diskutierte intensiv, ob Joe Biden mit 81 Jahren noch als Präsident kandidieren darf. Ist das Altersdiskriminierung?
Elisabeth Michel-Alder: Das hilft nicht, um Altersdiskriminierung zu bekämpfen. Es ist in jedem Alter klug, sich um seine Gesundheit und Leistungsfähigkeit Gedanken zu machen. Im Fall Biden hätte die Demokratische Partei schon vor einigen Jahren genauer hinschauen müssen.*

Altersangaben transportieren jedoch keine Information über Fähigkeiten und Energie. Menschen altern unterschiedlich: Der eine ist mit 80 Jahren pflegebedürftig, der andere rennt noch einen Marathon. Statt in Alterskategorien zu denken, sollten wir Menschen als Potenziale behandeln und beurteilen.

Aber das Alter ist doch eine spannende Information…
Tatsächlich wird in vielen Zeitungsberichten das Alter von Personen erwähnt. Ich verstehe aber nicht, warum diese Schubladen wichtig sein sollen. Mit dem Alter verbinden wir viele Stereotype. So gelten Menschen ab 50 als weniger innovativ, agil oder nicht mehr entwicklungsfähig. Schlimm ist, dass die Betroffenen die Stereotype selbst übernehmen und sich entsprechend verhalten. 

Was sind die Folgen?
Insbesondere in grossen Unternehmen werden Menschen ab 50 kaum mehr befördert oder zu Weiterbildungen animiert. Man glaubt, dass sich dies nicht mehr lohne. Auch werden ältere Arbeitnehmende selten neu eingestellt; oft scheiden sie bei einem Chefwechsel (mit junger Nachfolge) oder bei einer Umstrukturierung aus. In vielen grossen Firmen wirbt man zwar mit Diversität, umgesetzt wird diese aber stärker in KMU und vor allem in Bezug auf das Geschlecht.

Über Elisabeth Michel-Alder

Elisabeth Michel-Alder ist Sozialwissenschaftlerin und beschäftigt sich mit dem demografischen Wandel und dem Thema Älterwerden in der Arbeitswelt. Sie hat u.a. das Netzwerk Silberfuchs gegründet und bei der Entwicklung von spurenwechseln mitgewirkt. Zudem war sie Initiantin des Citizen-Science-Forschungsprojekts, das die Bedingungen für ein langes Engagement in Wirtschaft und Gesellschaft untersucht. Seit 1988 leitet sie ihre Beratungsboutique ema Human Potential Development in Zürich. Ihre Firma berät Unternehmen und Organisation in Sachen Weiterbildung, Systementwicklung und Personalförderung.

Ältere Arbeitnehmende fallen also durch das Raster.
Genau. Das passiert schon früh im IT-gesteuerten Auswahlprozess. Oft wissen die jungen Chef:innen auch nicht, wie sie mit den älteren Kolleg:innen umgehen und wie sich diese entwickeln sollen. Denn in den Unternehmen fehlen Strategien für die zweite Hälfte des Berufsweges. Ältere Mitarbeitende sind auch nicht immer die angenehmsten. Manche denken, aufgrund ihrer Erfahrung bereits alles zu wissen und lassen sich nichts sagen. Wahr ist, dass Erfahrung zu 50 Prozent schlau und zu 50 Prozent dumm macht.

Das müssen Sie genauer erklären.
Erfahrung erleichtert in vielen Bereichen das Arbeiten wie das Leben. In anderen schränkt sie aber auch ein. Man denkt, man weiss Bescheid, dabei hat man wichtige Entwicklungen verpasst. Am Ball bleiben ist wichtig.

Sie schildern die Situation von älteren Mitarbeitenden eher düster. Haben diese denn in Zeiten des Fachkräftemangels keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt?
Möglich, je nach Freiraum für Zuwanderung. Die Stellensuche dauert sicher länger. Häufig sind kleinere und mittlere Unternehmen viel offener als die grossen. Sie stellen eine Person aufgrund ihrer Qualifikation und Persönlichkeit ein. Um die jungen Mitarbeitenden buhlen alle; die kleinere Zahl macht sie kostbarer.

Bei vielen Arbeitsstellen kann ein reifes Alter aber ein Vorteil sein. Ich würde bei der Jobsuche darauf schauen, welches Zielpublikum eine Firma anspricht. So lassen sich Senioren lieber von einem Personaltrainer in ihrem Alter fit machen und ein Altersresidenzenkonzern sucht eher eine reifere Marketingleiterin.

Man sagt, dass Frauen im Berufsleben aufgrund ihres Alters besonders diskriminiert werden.
Leider. Eine grosse Studie aus den USA zeigte, dass Frauen ab 50 bei Bewerbungen selbst in niedrig qualifizierten Jobs ein Drittel geringere Chancen haben als Männer. Eine kleinere Studie aus der Schweiz kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Ich befürworte deshalb, dass man in Bewerbungsschreiben den Jahrgang weglässt; wie das in Belgien bei der öffentlichen Verwaltung bereits der Fall ist.

Aber die Anzahl Berufsjahre und -erfahrungen liefern dennoch einen Hinweis auf das Alter.
Sicher, aber man diskutiert dann bei der Personalauswahl über Erfahrungen und Kompetenzen statt über den Jahrgang. Das ist ein Unterschied. Altersdiskriminierung zeigt sich oft in der Sprache. Reifere Frauen werden etwa auf eine abwertende Weise als Mameli oder gueti Frau bezeichnet. So würde man nie über eine 30-Jährige reden. Oder die Aussage «er arbeitet noch, obwohl er schon 75 ist», halte ich für verräterisch; sie spiegelt bestimmte Erwartungen oder Normen.

Sollte es mehr Aktivist:innen geben, die sich gegen Altersdiskriminierung einsetzen?
Vielleicht, da gibt es im Gegensatz zu anderen Bereichen wie Sexismus oder Rassismus wenig. Dabei ist es beim Thema Alter genauso wichtig, dass man die Menschen auf stereotype Denkmuster aufmerksam macht. Denn niemand ist davor gefeit. Allerdings sollte man – so meine Idee – dabei charmant vorgehen und nicht aggressiv auffahren.

Interessant finde ich auch, dass die Schweiz als einziges OECD-Land kein Gesetz hat, das vor Altersdiskriminierung schützt. So ist es beispielsweise nur hierzulande möglich, dass etwa bei Massenentlassungen alle Mitarbeitenden einer bestimmten Altersgruppe den Job verlieren. Pure Altersdiskriminierung, die nichts mit Leistungsfähigkeit und Motivation zu tun hat.

Sie setzen sich nicht nur gegen Altersdiskriminierung ein, sondern sind auch dafür, dass man ein starres Rentenalter abschafft. Dabei haben es ältere Menschen so schwer in der Arbeitswelt.
Das hat auch mit dem starren Rentenalter für alle zu tun. In den meisten Arbeitsverhältnissen erlischt der Vertrag mit dem regulären Pensionsalter. Der fixe Dreitakt «Ausbildung, Arbeit und Ruhestand» führt zu einem vorzeitigen Stillstand im immer längeren Leben. Man denkt, dass Menschen in dessen Mitte bereits im Sinkflug sind. Dabei sind viele mit 65 Jahren noch topfit und könnten locker 10 Jahre weiterarbeiten. Unsere Lebenserwartung steigt und wir bleiben länger gesund, da sollten berufliche Entwicklungen im Alter möglich sein.

Viele Leute fühlen sich aber mit 60 müde oder gelangweilt in ihren Jobs.
Menschen sind verschieden. Deshalb ist es individuell, zu welchem Zeitpunkt man nicht mehr arbeiten mag. Ich initiierte ein Projekt, in dem wir ältere Menschen befragten, die über ihre Pensionierung hinaus arbeiten. Spannend war, dass alle in der Mitte ihrer Laufbahn etwas Neues in Angriff nahmen. Sie waren also motiviert, weil sie sich auch im Alter weiterentwickeln konnten und nicht in ihren letzten Berufsjahren stagnierten oder einen Abstieg erlebten.

Wichtig ist natürlich, dass man eine passende und sinnstiftende Tätigkeit ausübt und mit wohlwollenden Menschen kooperiert. Dies hält uns gesund. Sogar Krankheiten oder körperliche Einschränken werden weniger schwer wahrgenommen, wenn man beruflich ausgefüllt ist. Dies können bezahlte oder ehrenamtliche Tätigkeiten sein. Wichtig ist aber, dass man diese verbindlich ausübt.

*Hinweis: Das Interview wurde vor dem Rückzug von Joe Biden geführt.