Die Versicherten werden die Schreiben zu ihren neuen Prämien im Laufe des Oktobers von der Krankenkasse erhalten. Eine Klärung der individuellen Belastung kann aber bereits ab heute über die Webseiten der Versicherer oder über Prämienportale vorgenommen werden. Danach bleibt uns allen nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden oder zu wechseln.
Helveticcare.ch versucht etwas Klarheit zu bringen und geht der Frage nach, weshalb die Mitteilung von Bundesrat Berset nicht nur frustriert, sondern letztlich auch traurig macht.
In den nächsten Zeilen wird versucht, einige Argumente für die massive Prämienerhöhung darzustellen und diese folgendermassen zu gewichten: schwacher, gewichtiger und sehr gewichtiger Faktor.
Wie können solche massiven Kostensteigerungen überhaupt entstehen, fragt man sich als betroffene, zahlende Person. Klar, die Anspruchshaltung der Versicherten ist hoch. Sie konsumieren Medizin. Doch alles auf die Versicherten und Patienten abzuschieben, wäre allzu billig.
Es gibt nämlich sehr viele Menschen, die nicht einfach nur dem Konsum verfallen sind. Längst sind teure lebensverlängernde Massnahmen, die die Steigerungen vor Jahren ausgemacht haben, rückläufig.
Das Argument des zunehmenden Konsums wird gerne vorgebracht: Es ist anonym und untersteht keiner Beweislast. Viele finden, das werde wohl stimmen, da alle anderen so viel konsumieren.
Hingegen ist der demografische Wandel ein gewichtiges Problem: Die grosse Population der Babyboomer kommt in ein Alter, in dem sie zunehmend auf medizinische Unterstützung angewiesen ist. Es ist zwar nicht so, dass jede einzelne Person mehr Leistungen «konsumiert». Aber die breite Bevölkerung benötigt mehr Leistungen. Und genau diese Inanspruchnahme erhöht insgesamt die Kosten.
In den Prämien der Grundversicherungen sind keine künftigen Kostenerwartungen einkalkuliert. Jedes Jahr wird von Neuem berechnet, wie sich in den einzelnen Kantonen die Kosten pro Kategorie (Medikamente, Spital, Arzt etc.) voraussichtlich entwickeln. Deshalb wird die vermehrte Inanspruchnahme aufgrund der demografischen Entwicklung unweigerlich auch zu künftigen Prämienerhöhungen führen.
In unserem System müssen die Leistungserbringer optimieren: Sie sind mit höheren Kosten konfrontiert – zum Beispiel für das Pflegepersonal oder für die gestiegenen Energiepreise. Zudem sind die Tarife im ambulanten Bereich kaum mehr kostendeckend.
Will man unternehmerisch überleben, muss man entweder mehr Umsatz oder mehr Einnahmen pro Patient erzielen. Besonders schwer trifft das die Spitäler. Sie haben immer weniger stationäre Patienten, weil viele Behandlungen ambulant möglich geworden sind. Sie müssen optimieren, wo es nur geht.
Der Zahlungsstrom aus den Zusatzversicherungen (bisher eine Art Ventil) ist rückläufig. Aber gleichzeitig bleibt den Spitälern aus ihrer individuellen Perspektive heraus nichts anderes übrig, als zu investieren. Sie müssen, obwohl der Markt rückläufig ist, attraktiv bleiben. Dies ist der Grund, weshalb mehr als 10 Milliarden Schweizer Franken aktuell in Spitalinfrastrukturprojekte investiert werden. Eine Strukturbereinigung bleibt aus.
Eine Anpassung der Infrastrukturen an die veränderten Bedürfnisse beziehungsweise an die veränderten finanziellen Möglichkeiten findet nicht statt. Die Kantone haben die politische Kraft und die Mittel offensichtlich nicht, um entsprechende Anpassungen umzusetzen.
Die Krankenkassen kontrollieren Millionen von Rechnungen und versuchen – mehr verzweifelt als wirksam – Gegengewicht zu geben. Sie können mit den Kontrollen und Wirtschaftlichkeitsverfahren etwelche Erfolge aufweisen. Leider sind diese im gesamten Volumen unbedeutend. Ihre Administration kostet die Grundversicherten etwas mehr als 5 Rappen pro versicherte Person. Die restlichen Aufwendungen gehen vollumfänglich an die Leistungserbringer.
Auf die kantonale Politik und auf die konkrete Leistungserbringung haben sie kaum Einfluss. Leider haben die Krankenkassen es in der Vergangenheit nicht verstanden, Sozial- und Privatversicherungen in Einklang zu bringen. Wachstum in der Grundversicherung und Gewinn in den Zusatzversicherungen waren zu sehr die Treiber. Auf der Strecke blieben und bleiben die Zusatzversicherten.
Mittels alternativen Versicherungsmodellen wird seit 30 Jahren versucht, günstigere und attraktivere Angebote in den Grundversicherungen zu schaffen. Obwohl diese Modelle vorwiegend auf Rabatte und eigenes Wachstum ausgerichtet sind, konnten beträchtliche Erfolge erzielt werden. Aktuell sind aber bereits über 70 Prozent der Versicherten in einem derartigen Modell. Viel weitere Ersparnis bleibt deshalb kaum.
Die Krankenkassen haben wenig Einfluss auf die konkrete Leistungserbringung und damit auf die effektive Höhe der Prämien. Auch können die alternativen Versicherungsmodelle keinen weiteren grossen Einsparbedarf liefern.
Ebenfalls sind in der aktuellen Prämienrunde die Höhe der Reserven kaum mehr ein Thema. Der Einschuss ist vor zwei Jahren erfolgt und hat zwar noch, aber immer weniger Nachwirkung.
Der Bund hat grundsätzlich zwei Aufgaben:
Einerseits beeinflusst er die Kosten direkt, weil er für die Preise von Medikamenten, für die Zulassungen von Leistungen und für die grundsätzliche Tarifstruktur im ambulanten Bereich zuständig ist.
Die Kosten in diesen Gebieten sind teilweise abschätzbar und teilweise haben diese indirekte Wirkung (z. B. Nomenklaturen im ambulanten Bereich).
Was die neuen Medikamentenvereinbarungen, welche der Bundesrat so nicht genehmigen will, anbelangt, ist dies ein doppelbödiges Spiel. Jene Medikamente, die zulasten der obligatorischen Krankenversicherungen fallen, werden verbilligt. Jene, welche die Versicherten direkt bezahlen, verteuert.
Anderseits ist der Bund für die Gesamtsteuerung, für nationale Gesetze, für die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen sowie für die Gesamtausrichtung verantwortlich.
Bundesrat Alain Berset ist es in seiner Amtszeit nicht gelungen, zusammen mit den Kantonen und dem eidgenössischen Parlament in diesem Themenfeld Akzente setzen zu können. So besteht aktuell keine Perspektive.
Die Prämienerhöhung stimmt einerseits traurig, weil viele der in der Schweiz lebende Menschen zunehmend an die Grenze der Belastung kommen. Da vermag die bereits in dieser Session gesprochene weitere Prämienverbilligung von 300 Millionen Franken wohl nicht ganz Abhilfe zu schaffen.
So richtig enttäuschend und traurig stimmend ist allerdings die Perspektive: Das Parlament verabschiedet wohl noch diese Woche die EFAS, also die einheitliche Finanzierung ambulant und stationär.
Weil das schon ein weit gediehenes, aber doch sehr abstraktes Geschäft ist: Einbezug der Pflege, verstärkte kantonale Planungen des ambulanten und des Pflegeheimsektors, zusätzliche 300 Millionen Franken in die Prämienverbilligung, mit der verbundenen inständigen Bitte an die Kantone, doch mitzumachen...
Keine einzige konkrete und im nächsten Jahr wirksame Massnahme – im Gegenteil: Langzeitpolitik auf unsicherem Boden! Dabei steht unser System vor einer Mangelsituation – die konkrete Versorgung ist aufgrund von Medikamentenengpässen oder Fachkräftemangel zunehmend nicht mehr sichergestellt.
Die Gesundheitspolitik in Bern scheint wie die ehemalige französische Monarchie zu funktionieren. Um Kontinuität zu gewährleisten, wurde übermittelt: «Der König ist tot, lang lebe der König.»
Immerhin – und das sei hier auch noch mit einer Randnotiz erwähnt: Es gibt aus einigen einflussreichen und unterschiedlichen Kreisen die Erkenntnis, dass auf dieser Basis nicht mehr weiterzufahren ist!
Erwähnt seien hier die Frage nach der Aufhebung des Obligatoriums, erneut jene nach einer Einheitskasse und insbesondere das konkrete Modell des «Réseau de l’Arc» im Berner Jura. Auch wenn all diesen Modellen Mängel anhaften dürfen: Die grundsätzliche Haltung, dass es auf dieser Basis nicht mehr so weitergehen kann, scheint sich langsam aber sicher durchzusetzen.
Otto Bitterli hat sich ein Berufsleben lang an der Schnittstelle zwischen Privat- und Sozialversicherung bewegt. Er kommt ursprünglich von der Privatversicherungsseite (Winterthur) und hat dann bei der Sanitas als Geschäftsleitungsmitglied, als CEO und 1 Jahr als Verwaltungsratspräsident (VRP) gearbeitet. Aktuell ist er Berater und in mehreren VR und Boards tätig, unter anderem als VRP der Helvetic Care.
Tags