Selbstbestimmt Wohnen und Leben im Alter: Viele Heime werben mit diesem Slogan. Halten diese ihr Versprechen immer ein?
Clovis Défago: Das wäre schön. Doch leider wird das Wort «Selbstbestimmt» oft auch missbraucht. Selbstbestimmt heisst nicht nur die Wahl zwischen zwei Menus oder die Teil-, bzw. Nichtteilnahme an einem Tagesprogramm, wie ich dies neulich in einem Konzept sah. Selbstbestimmt bedeutet umfassende Wahlmöglichkeiten, was die Abhängigkeit von Entscheidungen anderer minimiert.
Selbstbestimmung bedeutet für Altersinstitutionen, dass wir nicht anbieterorientiert denken und handeln, sondern von diesem veralteten, nicht mehr zeitgemässen System wegkommen, hin zur Nachfrageorientierung. Das ist herausfordernd und kommt einem Dogmenwechsel gleich.
Worauf muss man achten, wenn man ein Heim auswählt?
Ein Heim versteht sich häufig noch als «Hospitalisation» pflegebedürftiger Menschen. Gute Pflege wird allem vorangesetzt. Dabei kommen das Wohnen und Leben im Alter zu kurz. Eigenständigkeit und Autonomie wird stark eingeschränkt. Will ich das? Oder möchte ich trotz des Bedarfs an Sicherheit, Hilfe oder Pflege wohnen wie zu Hause?
Die Auswahl eines Heimes bzw. einer Alterseinrichtung darf nicht erst erfolgen, wenn man notgedrungen muss oder es dann andere tun. Das richtige «Zuhause im Alter» sollte frühzeitig und eigenständig nach für sich wichtigen Kriterien gewählt werden. Es sollte ein Zuhause sein, wo man auch bei hohem Pflegebedarf bleiben kann. Mit der frühzeitigen Wahl kann auch das «Wie» festgelegt werden.
Über Clovis Défago
Clovis Défago ist Verwaltungsratspräsident von der Casa Solaris AG. Als Gründer von SENIOcare baute er schon vor 40 Jahren die erste private Gruppe mit 24 Wohn- und Pflegeheimen aus. Nach 25 Jahren operativer Führung verkaufte er diese Institutionen und realisiert seither neue zukunftsweisende Projekte in der Altersversorgung. Défago amtete zudem zwischen 2004 und 2020 als Präsident der Senesuisse, dem Verband wirtschaftlich unabhängiger Alters- und Pflegeeinrichtungen Schweiz.
Casa SolarisSie haben mit Casa Solaris eine ausgeprägte Philosophie zum Thema «selbstbestimmt Leben und Wohnen im Alter». Was machen Sie anders im Vergleich zu herkömmlichen Institutionen?
Casa Solaris hat ein in der Schweiz einzigartiges Konzept, das auf das selbstbestimmte Wohnen und Leben im Alter gründet. Wir verstehen uns nicht als Pflegeheim, sondern vielmehr als Hotel mit umfassenden Dienstleistungen. «À la Carte» ist bei uns grossgeschrieben.
Dabei stehen bei uns Wohnen und Leben im Vordergrund. Betreuung und Pflege sind bei uns eine Dienstleistung wie die Gastronomie oder Hotellerie. Die Leute sind bei uns, weil sie Sicherheit haben wollen, Betreuung oder Pflege benötigen, jedoch nicht auf Autonomie und Selbstbestimmung verzichten wollen.
Impressionen von den Häusern der Casa Solaris (Bilder: Casa Solaris und Matthias Studer)
Das beginnt bereits bei der Wahl der Wohnform: Egal, ob jemand ambulante Betreuung oder stationäre Pflege benötigt: Unsere Bewohnerinnen und Bewohner wählen ihre Wohnform (Wohnung oder Zimmer) selbst und haben die Garantie, dort bleiben zu können, solange sie wollen. Alle Pflegezimmer haben zudem eine eigene Teeküche, was bei der Gründung der Casa Solaris ein Novum in der Schweiz war.
Diese «Durchlässigkeit», wie wir sie in der Wohnform bieten, ist in der Schweiz einmalig. Und ganz wichtig: Der Aufenthalt im Casa Solaris ist auch für Personen möglich, die auf Ergänzungsleistung angewiesen sind.
Offensichtlich ist das Papier mit vielen Konzepten und Strategien geduldig. Wie stellen Sie sicher, dass in Ihren Institutionen «selbstbestimmt leben im Alter» auch effektiv gelebt wird?
Unsere Philosophie muss im Bewusstsein aller Mitarbeitenden in der täglichen Arbeit sein. Damit wir nicht in ein 0815-Modus abdriften, ist es wichtig, immer wieder zu justieren und uns bewusst sein, dass Casa Solaris kein «Heim» im eigentlichen Sinn ist.
Die Wünsche der Bewohnenden haben gegenüber den betrieblichen Bequemlichkeiten und Abläufen absoluten Vorrang. Unsere Bewohnende, gleich ob in Alterswohnungen oder im stationären Bereich, sind hier zu Hause. Und zu Hause – auch in einem Hotel – ist man frei und nicht fremdbestimmt durch irgendwelche programmierten Strukturen.
Wie sieht der Alltag in den Häusern von Casa Solaris aus?
Das ist sehr individuell. Ein gewisses Programm wird angeboten. Unsere Bewohnenden gestalten ihren Tag selbst, solange sie können. Zum Beispiel Essen: Wir haben keine festen Essenszeiten. Wer selbstständig essen kann, isst in der Regel im betriebseigenen, öffentlichen Restaurant und bestimmt seine Essenszeit selbst. Unsere Bewohnende wählen ihre Menus aus der Wochenkarte oder Menukarte. Sie können zum Essen Besucher einladen. Beschränkte Besuchszeiten kennen wir nicht.
Ist betreutes Wohnen – also «ambulant statt stationär», maximale Unabhängigkeit und trotzdem Sicherheit – überhaupt bezahlbar? Ist das nur etwas für sehr vermögende Menschen?
Nein. Schauen wir uns die Preisbildung und die Angebote der Heime etwas genauer an. Die Heime sind meist Kollektivhaushaltungen mit Pauschalangeboten. Sie sind anbieterorientiert mit strukturierten Tagesabläufen und pauschalisierten Angeboten. Die Kosten der Pauschalangebote verteilen sich auf alle gleichermassen. Die Individualität, die sich im Ausmass der Wahlmöglichkeit beweist, ist meist Opfer der Betriebsstruktur.
Dabei ist Individualität nicht teurer. Ein simples Beispiel: Will ich zwei Äpfel kaufen, nehme ich mir auch nicht gleich einen Früchtekorb. Diese zwei Äpfel sind denn auch günstiger. Aber es braucht Kreativität, ein solches Angebot entsprechend zu gestalten, denn die Pauschalisierung ist viel einfacher.
Sie verwenden für die Mitarbeitenden auch spezielle Bezeichnungen wie «Gastgeber und Geschäftsführer». Warum?
Dies bestärkt unsere Philosophie, wie ein Hotel zu funktionieren. Da wir kein «Heim» oder «Zentrum» im eigentlichen Sinne sind, gibt’s bei uns auch keine Heim- oder Zentrumsleiter oder gar Direktoren. Ein Gastgeber signalisiert Nähe zum Gast, zu den Bewohnenden und umschreibt die eigentliche Aufgabe hervorragend.
Sie haben gerade in Kollbrunn eine neue Institution eröffnet. Findet man überhaupt noch Personal? Wie wählen Sie aus?
Für unsere Casa Solaris in Kollbrunn mit insgesamt rund 60 Wohneinheiten und zwei Restaurants hatten wir über 400 Bewerbungen, ohne zu inserieren. Wie in den anderen drei Casa-Solaris-Betrieben hatten wir auch hier keine Mühe, gute, sehr gute Mitarbeitende zu finden.
Offensichtlich ist unsere Philosophie ansprechend und unser Konzept motivierend. Das bestätigt uns, nicht nur für Betagte, sondern auch für Mitarbeitende auf dem richtigen, für die Zukunft vielversprechenden Weg zu sein.
Konnten Sie auch während der Corona-Pandemie Ihre Philosophie leben?
Ja. Wir haben uns in unserer Philosophie nicht durch die behördlichen, alten Menschen total unwürdigen Einschränkungen behindern lassen. Es gelang uns immer wieder, den einzelnen Massnahmen möglichst elegant auszuweichen. Die Bewohnenden sind wie erwähnt bei uns zu Hause und nicht in einer fremdbestimmten Institution. Sie sollen somit auch frei sein, wie eben zu Hause.
Casa Solaris ist mit Helvetic Care eine Partnerschaft eingegangen - weshalb und wie kam diese zustande?
Durch die Anfrage eures Präsidenten Otto Bitterli. Die Plattform erscheint uns sehr wichtig.
Die Anforderungen älterer Menschen haben sich stark verändert. Sie verändern sich auch in Zukunft. Dafür müssen Möglichkeiten der Wahlfreiheit geschaffen werden, die wiederum eine gute, verständliche Informationsgrundlage bedürfen. Wo und in welchem Rahmen will ich mein Leben verbringen, wenn ich auf Sicherheit, auf Hilfe und auch auf Pflege angewiesen bin. Diese Frage muss in geeigneten Formen beantwortet werden können, bevor andere entscheiden. In Abhängigkeit anderer zu sein, ist wahleinschränkend. Helvetic Care geht in der Zeit der zunehmenden Digitalisierung und wachsenden Orientierung auf Social-Media-Plattformen den richtigen Weg.
Was möchten Sie mit uns gemeinsam erreichen?
Im Vordergrund stehen die umfassenden Wahlmöglichkeiten auch im Alter. Diese können nur gewährleistet werden, wenn objektiv und umfassend, leicht verständlich und übersichtlich informiert wird. Dies muss das Ziel der Zusammenarbeit sein.