Herr Spielmann, viele ältere Menschen sind gezwungen, Weihnachten allein zu feiern. Muss das zwangsläufig schlimm sein?
Thomas Spielmann: Nein, das muss es nicht. Es gibt viele Seniorinnen und Senioren, die das Alleinsein geniessen. Nicht jeder, der an Weihnachten allein ist, ist auch einsam. Wie das Alleinsein an Weihnachten empfunden wird, hängt massgeblich davon ab, welche Bedeutung Weihnachten für uns hat und welche Erwartungen wir damit verknüpfen. Jeder hat dazu seine eigenen Vorstellungen.
Zum Beispiel?
Für viele ist Weihnachten das Fest der Liebe. Die Vorstellung, man sitzt allein zu Hause und alle andern feiern ein grosses Fest ist unverträglich. Bei dieser Einstellung können Sie Gift drauf nehmen, dass es schreckliche Weihnachten wird. Für andere wiederum ist Weihnachten ein Tag fast wie jeder andere auch. Mit dieser Einstellung hat man für sich schon viel gewonnen. Das heisst nicht, Weihnachten komplett zu ignorieren, sondern seine Erwartungen dazu zu verändern.
Können Sie das erläutern?
Es hilft, wenn man sich von althergebrachten, aber unrealistischen Erwartungen verabschiedet. Zwar existiert noch immer das traditionelle Bild der Grossfamilie, die an Weihnachten zusammenkommt. Mit der Realität hat das jedoch nicht mehr viel zu tun, und das nicht erst seit Corona. Kinder und Grosskinder haben häufig eigene Familien und wollen für sich feiern.
Was raten Sie alleinstehenden Senioren?
Die entscheidende Frage lautet: Was will ich? Wie möchte ich den Tag verbringen, damit ich zufrieden und glücklich bin? Jeder hat es ein Stück weit selber in der Hand, das Fest nach Belieben zu gestalten - und damit auch die Aussicht auf ein positives Weihnachtserlebnis.
Haben Sie praktische Tipps für fröhliche Weihnachten allein?
Verwöhnen Sie sich, kochen Sie etwas Leckeres oder nutzen Sie einen Lieferdienst. Machen Sie sich selbst ein Geschenk, das Sie an Heiligabend auspacken können, zum Beispiel ein packender Roman oder ein spannender Krimi. Besorgen Sie sich das Geschenk rechtzeitig, damit Sie es unter das Weihnachtsbäumchen legen können. Falls Sie mit Angehörigen oder Freunden telefonieren wollen, dann sollten Sie mit ihnen unbedingt eine Uhrzeit vereinbaren.
Wenn Sie Gemeinschaft suchen, informieren Sie sich im Voraus über Veranstaltungen, die speziell an ältere, alleinstehende Menschen gerichtet sind. Gerade Seniorenheime veranstalten oft Weihnachtsfeiern, die auch für Menschen von ausserhalb zugänglich sind. Auch der Gottesdienst schafft ein Gefühl von Gemeinschaft.
Was tun, wenn einem die Decke trotzdem auf den Kopf fällt?
Solange es die Gesundheit zulässt: Machen Sie einen Spaziergang durch das Quartier, egal wie das Wetter ist. Geniessen Sie die nächtliche Ruhe und atmen Sie die frische Luft ein, erfreuen Sie sich an den weihnächtlich geschmückten Häusern und Wohnungen. Vielleicht begegnen Sie Nachbarn oder einem Fuchs.
Macht *Corona alles nur noch schlimmer?
Ja, es wird nur im kleinen Familienkreis gefeiert, weil die kleinen Kinder noch nicht geimpft sind und man die Grosseltern keinem Risiko auszusetzen will. Ich glaube aber, dass viele Senioren damit umzugehen wissen, schliesslich haben sie in ihrem Leben schon viele schwierige Situationen gemeistert, denken Sie nur an die Kriegsgeneration. Die Einsamkeit ist nur die eine Seite. Es gibt viele Senioren, die Angehörige, Freunde oder Bekannte wegen Corona verloren haben. Diese Todesfälle überschatten das Weihnachtsfest, ob im Kreise der Familie oder allein.
Seniorinnen und Senioren sind in einem Dilemma: Einerseits wollen sie mit der Familie zusammen sein und Gemeinschaft erleben, andererseits wollen sie sich keinem Ansteckungsrisiko aussetzen. Wie soll man damit umgehen?
Es hilft sich klarzumachen, was man selbst will. Der Schutz der Gesundheit ist nicht verhandelbar. Ein Beispiel: Wenn Onkel Heiri sich nicht impfen lassen will, dann hat er am Fest nichts verloren. Punkt. Darauf dürfen Sie beharren: «Entweder kommt er oder ich. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem man schon viel erlebt hat. Lange Zeit habe ich zurückstecken müssen. Jetzt geht es einmal nur um mich.»
Eine dieser vielen weisen Seniorinnen hat mir zudem gesagt: «Natürlich möchte ich von Herzen mit meinen Kindern und Enkeln feiern. Aber Ich will nicht, dass all die kommenden Weihnachtfeste für all meine Enkel mit der Erinnerung verbunden sein müssen, ja damals an Weihnachten haben wir die Grossmutter mit dem Coronavirus angesteckt, und daran ist sie dann gestorben.»
Wie sage ich es meiner Familie, ohne dass ich sie vor den Kopf stosse?
Wichtig ist, seinen Wunsch, wie man Weihnachten verbringen möchte, rechtzeitig zu kommunizieren, zum Beispiel so: «Ich habe mich entschieden, vor allem wegen Corona, Weihnachten dieses Jahr allein zu verbringen. Es wäre aber schön, wenn wir kurz telefonieren könnten.» Oder: «An Weihnachten habe ich andere Pläne. Ihr braucht nicht mit mir zu rechnen.»
Thomas Spielmann ist Psychologe aus Villigen AG.
Was tun, wenn meine Familie mit Unverständnis reagiert?
Gelassen bleiben und sagen: «In meinem ganzen Leben habe ich schon genug Kompromisse gemacht und auf alle und jede Rücksicht genommen. Dieses Mal läuft es so, wie ich es mir wünsche. Punkt.»
Wird Weihnachten als Familienfest sowieso überschätzt, da es oft zu Streit kommt?
Es ist paradox: Viele streiten an Weihnachten, weil sie unter keinen Umständen streiten wollen. Es gibt einen grossen Erwartungsdruck. Man will sich und anderen beweisen, dass man eine tolle Familie ist. Auch wenn man es das Jahr über nicht ist. Familien, die ohnehin schon total zerstritten sind, rate ich, auf eine gemeinsame Feier zu verzichten. Das bringt niemandem etwas was.
Statistisch gesehen gehen die meisten Beziehungen in der Vorweihnachtszeit auseinander. Kann es auch Paare im Rentenalter treffen?
Ja. Bei langjährigen Beziehungen liegt die Ursache einer Trennung oft darin begründet, dass die Partner völlig unterschiedliche Weltanschauungen haben. Ein Beispiel: Wenn ein Sechzigjähriger zu seiner Frau sagt, dass er sich einen dicken, fetten Porsche kaufen wolle, mit heissen Felgen und mit allem drum und dran, und die Frau kopfschüttelnd erwidert, damit könnte man im Senegal eine ganze Schule finanzieren, dann prallen hier zwei völlig unterschiedliche Lebensauffassungen aufeinander. Für die Frau ist ein Porsche Ausdruck eines dekadenten Lebensstils, während anderswo Menschen hungern müssen. Bricht ein solcher Streit in der Weihnachtszeit aus, kann er eine Beziehung in ihren Grundfesten erschüttern.
Weshalb gerade in der Weihnachtszeit?
Es ist eine emotional aufgeladene Zeit, in der Wohltätigkeit und Nächstenliebe eine grosse Rolle spielen. Gegen Jahresende hält man gerne Rückschau und zieht Bilanz. Dazu gehört es auch die Beziehung zu seinem Partner auf den Prüfstand zu stellen. Natürlich hat eine Trennung meist eine lange Vorgeschichte. Oft ist es dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und die Trennung einleitet oder besiegelt.
Was raten Sie alleinstehenden Senioren, damit sie Weihnachten im nächsten Jahr nicht mehr allein verbringen müssen?
Suche Sie sich Menschen, die zuhören können, von denen Sie Verständnis und Zuspruch bekommen. Suchen Sie nach Menschen, bei denen Sie sich nicht verstellen müssen und Ihre Gefühle offenbaren dürfen. Suchen Sie auch nach Menschen, die Sie emotional herausfordern, die auch mal unangenehmen Fragen stellen und Ihnen gegenüber Offenheit und Ehrlichkeit aufbringen. Und suchen sich solche Menschen, die ähnliche Erfahrungen im Leben gemacht haben wie Sie und Ihre Werte und Weltanschauung teilen.
Wie gehe ich bei der Suche nach solchen Menschen konkret vor?
Nehmen Sie sich im nächsten Jahr bereits im Oktober oder November ein paar Mal eine halbe Stunde Zeit und fragen Sie sich, wem genau möchte ich eigentlich gerne Weihnachtsgrüsse schicken. Nicht aus Pflichtgefühl, nicht aus Tradition, sondern weil beim Gedanken an diesen Menschen mein Herz warm wird und ich ein Gefühl von Dankbarkeit empfinde.
Wie feiern Sie Weihnachten?
Üblicherweise feiern meine Frau und ich Weihnachten im Ausland, meistens in Neuseeland oder in Thailand. Dieses Jahr bleiben wir wegen Corona in der Schweiz und feiern im kleinen Rahmen, zusammen mit meinem Bruder. Geschenke wird es keine geben, weil es sich in unserer Familie vor vielen Jahren eingebürgert hat, statt Geld für Geschenke auszugeben, den eingesparten Betrag an die «Ärzte ohne Grenzen» und an das SRK weiterzuleiten.
*Dieser Text wurde bereits im Dezember 2021 publiziert, als Corona aktuell war. Weil aber die Tipps des Psychologen Thomas Spielmann sehr wertvoll sind, publizieren wir das Interview in der Adventszeit 2023 nochmals.
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