In der Schweiz fühlt sich jeder Dritte einsam. Was bedeutet Einsamkeit für die Gesundheit?
Katrin Merz: Einsamkeit ist ein grosser Risikofaktor für körperliche und psychische Krankheit. Chronisches Einsamkeitserleben erhöht den Stresspegel und kann sowohl zu Depressionen, Angsterkrankungen, nachlassender Hirnleistung als auch zu kardiovaskulären Erkrankungen, Schwächung des Immunsystems, Entzündungen und Krebs führen. In Studien konnte man zeigen, ganz plakativ ausgedrückt, dass chronisches Einsamkeitserleben so gesundheitsschädlich ist wie 15 Zigaretten am Tag.
Mehr zum Thema Gesundheit im Alter
Sie sind in Ihrem beruflichen Alltag als Leiterin des Schwerpunktes Alterspsychotherapie stark mit der Einsamkeitsthematik konfrontiert. Welches sind Gründe für Einsamkeit?
Viele ältere Menschen empfinden Einsamkeit, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Sie fühlen sich oft von der Welt abgeschnitten, auch weil sie aufgrund von Gebrechlichkeit nicht mehr so mobil sind, sozial isoliert und weil ihnen nahestehende Menschen mit zunehmendem Alter sterben.
Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, beeinträchtigt Betroffene massiv und führt zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Was ist zu tun?
Einsamkeit muss vermehrt thematisiert werden. In anderen Ländern hat man das erkannt. In England zum Beispiel gibt es ein Ministerium für Einsamkeit, und in den Niederlanden bestehen mehrere Initiativen, die Einsamkeit bekämpfen. Auch in der Schweiz haben sich verschiedene Akteure den Themen Einsamkeit und soziale Isolation angenommen: vor allem Vereine und kleinere Institutionen, wie zum Beispiel das Zürcher Start-up «Rent a Rentner». Mehrgenerationen-Projekte, Alterswohngemeinschaften und einige politische Initiativen befassen sich ebenfalls mit der Thematik, Städte publizieren Leitfäden gegen soziale Isolation. Solche Initiativen sind wichtig.
Dr. med. Kathrin Merz ist Leitende Ärztin und Leiterin Schwerpunkt Alterspsychotherapie an der Psychiatrischen Privatklinik Hohenegg in Meilen bei Zürich.
Einsamkeit ist für viele auch ein Tabuthema.
Leider. Ich sehe das bei uns in der Klinik. Unsere Patientinnen und Patienten schämen sich oft für ihr Einsamkeitserleben und haben Mühe, darüber zu reden. Dabei wäre gerade dies sehr wichtig. Menschen müssen erfahren, dass sie mit ihrem Einsamkeitserleben nicht allein sind. Das Erleben des Unverbundenseins gehört zu unserem Menschsein.
Was ist zu tun?
Wir müssen Vernetzungsangebote schaffen: Besuchsdienste, Treffpunkte, Austauschgruppen. Auch wir in der Hohenegg schauen während des stationären Aufenthaltes, welche Vernetzungsangebote wir für die Zeit nach dem Austritt organisieren können.
Einsamkeit betrifft auch junge Menschen. Fast die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen erlebt in der Schweiz manchmal oder häufig Einsamkeit. Womit hat das zu tun?
Es sind tatsächlich immer mehr junge Menschen von Einsamkeit betroffen. Dies zeigen Studien, und wir beobachten es auch in unserer Klinik. Wir haben zunehmend Menschen unter dreissig bei uns, mehr als das früher der Fall war. Ein Grund dafür liegt wohl auch in der Pandemie. Junge Frauen und Männer litten besonders unter den sozialen Einschränkungen während der Krise. Aber nicht nur. Auch der fortschreitende Individualismus trägt zur grassierenden Einsamkeit bei, die Lebens- und Wohnformen – 1.3 Millionen Menschen leben in der Schweiz in einem Einpersonenhaushalt –, eine Arbeitswelt, die immer mehr Burnout-Fälle produziert, Berufstätigkeiten, die als wenig sinnvoll wahrgenommen werden, oder die schwindende Bedeutung von Gemeinschaft. Das Thema wird uns auf jeden Fall noch lange beschäftigen. Scheidungen, Trennungen und die demografische Entwicklung tragen ebenfalls dazu bei.
Austausch und Beziehungen helfen gegen Einsamkeit. Welche Rolle spielen die sozialen Medien?
Die sozialen Medien fördern wirkliche Beziehungen nicht. Denn die Friends und Follower sind oft mehr Schein als Sein, und der Selbstinszenierung und Selbstoptimierung verpflichtet. Menschen fühlen sich auch deshalb bedürftig oder einsam, weil sie zu viel Zeit in einer virtuellen Welt verbringen und immer mehr Dienstleistungen über Online-Plattformen beziehen oder Käufe im Internet tätigen. Reale, zufällige und authentische Begegnungen finden so weniger statt. Kommt hinzu, dass wir häufig nicht da sind, wo wir sind, sondern schon beim Nächsten. Die vielen Optionen und die Angst, etwas zu verpassen, zerstreuen uns. Dabei wäre es einfach: einhalten, achtsam sein, ein vertrauensvolles Gespräch führen. Wir brauchen das, den Austausch, wir brauchen nährende Begegnungen.
Weshalb sind solch nährende Begegnungen so wichtig?
Eine authentische, wahrhafte Begegnung ist gleichsam ein Resonanzraum. Wir Menschen sind soziale Wesen, brauchen einander und sind existenziell auf gemeinsame Erfahrungen und den Austausch angewiesen. Ich sehe immer wieder, wie Patienten aufblühen, wenn sie sich mit anderen über ähnliche Erfahrungen austauschen. Sie merken, dass sie nicht allein mit ihrem Leiden sind und erleben das als entlastend. Ich denke, wir erleben das alle so: Wenn wir uns in einem vertrauensvollen Umfeld austauschen können, dann fühlen wir uns verstanden – und kaum einsam.
Kann man sich nicht auch in Gemeinschaft einsam fühlen?
Doch. Gegenseitig nährende Beziehungen sind nur möglich, wenn wir in Verbindung mit uns selbst sind und uns trauen, uns mitzuteilen, in Verbindung zu gehen mit anderen. Man kann tatsächlich sozial sehr eingebunden sein und sich dennoch einsam fühlen. Auch spielen oft negative Beziehungserfahrungen und somit fehlendes Vertrauen in andere, verbunden mit Rückzug und folgendem Einsamkeitserleben, eine Rolle. Es ist daher wichtig, mit sich in Verbindung zu kommen. Achtsamkeitsübungen – und bei uns in der Klinik andere Spezialtherapien – helfen dabei, eigene Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, mit sich in Verbindung zu kommen, möglicherweise auch einen freundlicheren Umgang mit sich selbst zu erlernen. Das wäre dann auch die Voraussetzung für das Gelingen von gegenseitigen authentischen, nährenden Begegnungen – sozusagen das Antidot zu chronischem Einsamkeitserleben.