Zürcher Pfarrer wandert nach Pensionierung aus: «In Berlin fühle ich mich ganz neu gebraucht»

Nach der Pensionierung ins Ausland: Der Zürcher Pfarrer und einstige DDR-Häftling Rolf-Joachim Erler hat es getan. Er wanderte vor sieben Jahren nach Berlin aus und wurde zum informellen Stadtführer für Schweizer.

Zürcher Pfarrer wandert nach Pensionierung aus: «In Berlin fühle ich mich ganz neu gebraucht»
Ricardo Tarli

Herr Erler, bis zu Ihrer Pensionierung dienten Sie fast drei Jahrzehnte lang der reformierten Kirchgemeinde Zürich-Seebach als Pfarrer. 2014 zogen Sie nach Berlin. Was hat Sie mit 65 Jahren dazu bewogen, zu neuen Ufern aufzubrechen?
Rolf-Joachim Erler:
Da gibt es zwei Gründe: Nach ungeschriebener Regel sollte ein pensionierter Pfarrer nicht mehr in seiner Gemeinde mitmischen. Zum anderen wollte ich einen Neustart in einer anderen Stadt wagen. Dass die Wahl auf Berlin fiel, ist kein Zufall. Die Stadt war mir durch einige Besuche nicht ganz fremd, und ich wusste, dass es in Berlin sehr viele ehemalige politische DDR-Häftlinge gibt. Ich bin ja selbst einer. Und dass es in Berlin einen Schweizer Verein gibt, der mich nicht total heimatlos machen würde, erleichterte zudem die Entscheidung dorthin auszuwandern.

Wie haben Ihre Freunde und Bekannten reagiert?
Die Reaktionen waren gemischt. Einige Gemeindeglieder konnten den Wegzug nicht verstehen und waren entsprechend traurig. Immerhin, ich denke, dass ich mit vielen Gemeindegliedern einen guten, oft sogar herzlichen Kontakt pflegte. Mir nahestehende Menschen wünschten mir viel Erfolg und Glück in so einer grossen Metropole wie Berlin.

Manche gehen nach der Pensionierung ins Ausland, weil dort das Leben günstiger ist. War das für Sie auch ein Beweggrund auszuwandern?
Nein, das war es nicht. Das wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Obendrein sind die deutschen Steuern nicht zu unterschätzen, wie ich feststellen musste.

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Wie verbringen Sie Ihren Ruhestand in Berlin?
Der sogenannte Ruhestand ist in Tat und Wahrheit keiner. Er hat mir sogar eine Überraschung geschenkt: In Berlin bin ich zum informellen Stadtführer für Schweizer geworden. Seit meinem Umzug sind schon unzählige Gemeindeglieder zu Besuch gekommen, die «Könfler» meiner einstigen Gemeinde verbrachten hier ihr Konfirmationslager. Nebenbei habe ich meine Biografie geschrieben und arbeite in drei Vereinsvorständen mit. Mir wird es also nie langweilig.

Über Rolf-Joachim Erler

Rolf-Joachim Erler (71) wirkte von 1987 bis 2014 als Pfarrer der Evangelisch-Reformierten Kirchgemeinde Zürich-Seebach. Der gebürtige Dresdner bekam 2012 die Schweizer Staatsbürgerschaft vom Zürcher Stadtrat verliehen. 1973 wurde er nach einem gescheiterten Fluchtversuch in den Westen von der DDR-Staatssicherheit (Stasi) verhaftet und wegen staatsfeindlicher Verbindungen und versuchtem ungesetzlichen Grenzübertritt zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Nach 26 Monaten wurde er von der deutschen Bundesregierung für etwa 90‘000 DM freigekauft und nach West-Deutschland abgeschoben. 2018 hat er seine bewegende Lebens- und Leidensgeschichte als politischer Häftling der Stasi in den Zuchthäusern Gera und Cottbus veröffentlicht. Er wohnt in Berlin-Schöneberg.

Als junger Mann war Ihnen ein selbstbestimmtes Leben nicht vergönnt gewesen. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch aus der DDR landeten Sie im Stasi-Knast. Haben Sie später ein selbstbestimmtes Leben führen können?
Ja, das Leben hielt stets Spannendes für mich bereit. Zum Beispiel, dass ich gleich nach meiner Haftentlassung die Möglichkeit bekam, als gelernter Augenoptiker noch einmal ganz neu beginnen zu können, nämlich mit einem Theologie-Studium im Westen. Der Einstellung zu einem selbstbestimmten Leben halte ich jedoch einen für mich wichtigen Satz entgegen: «Glück ist nicht zu tun, was man mag, sondern zu mögen, was man tut.» Und das heisst schlicht und einfach nach Goethe, sich der Forderung des Tages zu stellen. Nach dieser Devise lebe ich auch heute, im Alter, mein Leben.

Das klingt nach einer fatalistischen Lebenseinstellung.
Das kann man natürlich so deuten. Doch als Christ habe ich keine Weltanschauung, die dem Schicksal frönt. Ich kann es auch mit Worten aus einem wunderschönen Lied ausdrücken, das ich mit meiner Gemeinde gern gesungen habe: «Vertraut den neuen Wegen, (…) weil Leben heisst: sich regen, weil Leben wandern heisst.» Und auf diesen neuen Wegen wird Gott «uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.» Und hier in Berlin fühle ich mich nach all den Zürcher Pfarrdienstjahren ganz neu gebraucht.

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Sie wuchsen zeitweise bei Ihren Grosseltern in der ehemaligen DDR auf. Ihre Mutter war in den Westen geflohen, weil die Liaison zu einem US-amerikanischen Besatzungssoldaten – Ihrem Vater – ihr zum Verhängnis wurde. Sie waren damals gerade mal sechs Jahre alt. Welchen Einfluss hatten die Grosseltern auf Ihren weiteren Lebensweg?
Mein Grossvater sass unter den Nazis über zwei Jahre im Gefängnis. Er war heimlicher und denunzierter BBC-Hörer und hatte die Befreiung durch die Alliierten geradezu herbeigesehnt. So wurden die Grosseltern zu meinen Vorbildern. Was sie mir mit auf den Weg gegeben haben, ist der Anspruch glaubwürdig zu leben. Keine so leichte Aufgabe, der ich mich immer wieder aufs Neue stellen muss. Was heisst denn glaubwürdig zu leben? Das, was man sagt und von anderen einfordert, das muss man auch selber zu leben versuchen.

Als Wahlberliner halten Sie Vorträge in Schulen oder führen Konfirmanden durch die Stadt. Was schätzen Sie besonders im Umgang mit Jugendlichen?
Der Kontakt mit jüngeren Menschen ist für mich wie eine Entdeckungsreise. Manchmal denke ich daran, worüber ich gern gepredigt habe: «Dein Alter sei wie deine Jugend!», aus 5. Buch Mose, Kapitel 33, Vers 25. Das bedeutet: Bleibe auch im Alter neugierig und lernfähig und gehe mit offenen Augen durch die Welt.

Was stellen Sie sich unter einem würdevollen und selbstbestimmten Leben vor, falls Sie einmal pflegebedürftig werden sollten?
Jeder Mensch in meinem Alter macht sich darüber Gedanken, wie es sein wird, einmal auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Da kann ich nur darauf hoffen, es mit Geduld zu ertragen, aber auch mit Dankbarkeit anzunehmen, und dass ich für die Pflegekräfte keine Zumutung bin.

Mit einer frühzeitigen Planung eröffnet sich ein langes selbstbestimmtes Leben entweder in den eigenen vier Wänden, in gemeinschaftlichen Wohnformen oder in einer Pflegeeinrichtung. Haben Sie für sich schon entsprechende Vorkehrungen getroffen?
Ja, ich habe eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht schon vor einigen Jahren in treue Hände übergeben. Bis dahin hoffe ich, dass mir der liebe Gott noch für einige Zeit Gesundheit schenkt und damit die Möglichkeit, noch für eine Weile etwas nützlich sein zu dürfen hier auf Erden. An ein Alters- und Pflegewohnheim möchte ich heute gar nicht denken. Ich habe als Pfarrer zu viel gesehen und erlebt, was es bedeutet, nur noch auf den Tod warten zu müssen.

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Werden Sie irgendwann in die Schweiz zurückkehren wollen?
Diese Frage kann ich im Moment nicht beantworten. Meine Ruhestätte wird in jedem Fall in meiner einstigen Zürcher Pfarrgemeinde sein. So habe ich es in meinem letzten Willen festgelegt.

Buchhinweis

Rolf-Joachim Erler, Freiheit, die ich meine: Flagge zeigen! Jugendjahre in den Fängen der DDR-Staatssicherheit, Zürich 2018.