Frau Keller-Messahli, Sie sind 64 und erreichen damit bald das Pensionsalter. Haben Sie Pläne für Ihren Ruhestand?
Saïda Keller-Messahli: Ich möchte mir einfach mehr freie Zeit einrichten, in der ich meinen anderen Interessen nachgehen oder die ich mit meinen kleinen Enkeln verbringen kann.
Noch sind Sie sehr aktiv und setzen sich unermüdlich für einen fortschrittlichen Islam ein. Werden Sie dieses Engagement im Ruhestand fortsetzen?
Wenn ich gesund bleiben darf, ja. Allerdings möchte ich auch mehr Zeit haben für Kultur, Freunde und Familie. All das ist mir in den letzten Jahren viel zu kurz gekommen.
Sie stammen aus Tunesien, geht man dort anders mit dem Älterwerden um?
In einem islamisch geprägten Land sind Älterwerden und Sterben noch mehr Teil des Lebens. Vielleicht wird dort der Tod weniger verdrängt als hier. Alte Menschen haben oft einen lebenslangen Platz in ihrer Familie, sind bis zum Schluss aufgehoben, ihre Lebenserfahrung wird wertgeschätzt. Es erstaunt mich trotzdem immer wieder, wie sich schon 60-Jährige in meinem Ursprungsland zum alten Eisen zählen, wo doch beispielsweise in den USA man mit 80 Staatspräsident werden kann.
Wie beurteilen Sie den Umgang mit alten Menschen hierzulande?
Die Frage kann man nicht verallgemeinernd beantworten. Ich kenne sowohl dort wie hier gut aufgehobene, zufriedene alte Menschen und solche, die schrecklich einsam in Altersheimen «parkiert» sind. Es kommt immer auf die Umstände und auf das Umfeld an: Hat man noch die Kraft, selber zu bestimmen oder bestimmt eine andere Person? Wenn ja, wie integer und wohlwollend ist diese Person? Nirgends ist es ideal organisiert und vieles hängt davon ab, wie gut vorbereitet man sich in seine alten Tage begibt. Beide Länder können aber voneinander lernen.
Was denn genau?
Tunesien könnte einiges von der Schweiz lernen, insbesondere Altersvorsorge für alle Bewohner, altersfreundliches Wohnen, Lebensgestaltung im Alter und dass man mit 60 immer noch produktiv und initiativ sein sollte. Die Schweiz könnte lernen, dass zu viel soziale Vereinzelung – besonders in den Städten – auch Einsamkeit, Verlust von Geborgenheit und soziale Entfremdung bedeuten kann.
Es ist sicher schön, wenn die Familie ihre alten Angehörigen pflegt.
In islamisch geprägten Ländern sind es in der Regel die Frauen, die sich um die Betagten der Familie kümmern. Es ist eher die Ausnahme, dass eine alte Person ins Altersheim kommt, auch weil es sehr wenige solche Institutionen hat. Das darf keinesfalls verklärt werden: Die Pflege von betagten Angehörigen geht immer auf Kosten der jüngeren Frauen. Viele Frauen in Tunesien sind damit überfordert, weil sie daneben noch eine eigene Familie haben und vielleicht noch einer Arbeit nachgehen. Die traditionelle Grossfamilie ist auch dort am Verschwinden, zumindest in den Städten. Auf dem Land ist die Armut gross und die Frage stellt sich auch deswegen nicht.
Über Saïda Keller-Messahli
Saïda Keller-Messahli (64) ist eine muslimische Menschenrechtsaktivistin und Islamismus-Expertin. Als Fünfjährige kam sie über Terre des Hommes als Pflegekind in die Schweiz, weil ihr Vater erblindete und ihre 10-köpfige Familie in Armut lebte. Die studierte Romanistin ist in der Öffentlichkeit bekannt, weil sie gegen radikale Muslime kämpft und Probleme in Schweizer Moscheen aufdeckt. Ausserdem gründete Keller-Messahli, die keine praktizierende Muslimin ist, das Forum für einen fortschrittlichen Islam und gehört zu den Gründerinnen der liberalen «Ibn Rushd – Goethe Moschee» in Berlin. 2016 erhielt sie für ihren Einsatz den Hauptpreis der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte/Sektion Schweiz.
Wie steht es um ältere Menschen in der Schweiz mit Migrationshintergrund?
Im Alter kommt einem zugute, wie man sich sozial integriert hat. Dann wird es wichtig sein, ob man noch Freunde, Familie und Bekannte hat. Die religiöse Zugehörigkeit sollte keine Rolle spielen. Es wäre falsch, die Gesellschaft auch im Alter nach Religionszugehörigkeit oder Muttersprache aufzuteilen. Ich war beispielsweise schon vor über 30 Jahren gegen muslimische Friedhöfe, übrigens zusammen mit liberalen jüdischen Freunden, weil das die soziale Fragmentierung und Segregation verstärkt – sogar über den Tod hinaus.
Wie stellen Sie sich denn für sich persönlich ein selbstbestimmtes Leben im Alter vor?
Selbstbestimmt alt werden geht nur, wenn man einigermassen gesund bleiben darf und finanziell und sozial gut aufgehoben ist. Wer all das im Alter hat, gehört zu einer kleinen, privilegierten Minderheit weltweit. Ich möchte gerne bis zum Schluss aktiv bleiben.
Freuen Sie sich auf das Älterwerden oder macht Ihnen dieser Prozess eher Angst?
Ab einem gewissen Alter wird Älterwerden zu einem Prozess des Abschiedsnehmens, der Trennungen. Man hat viel erlebt, auch den Tod von lieben Weggefährten. Spätestens dann wird einem die Verletzlichkeit und Endlichkeit des eigenen Lebens bewusst. Ich glaube nicht, dass man sich darauf freuen kann. Aber ich habe keine Angst vor diesem Prozess. Verwandlung macht unser Leben aus.
Tun Sie etwas dafür, um möglichst lange gesund und fit zu bleiben?
Wenn Sie Sport meinen: nein. Hingegen versuche ich jeden Morgen beim Aufwachen eine positive und wohlwollende Geisteshaltung einzunehmen, die es mir erlaubt, achtsam und dankbar zu sein. Eine Form von Meditation, in der ich jeden Tag zu mir finde. Von diesem inneren Gleichgewicht aus kann ich dann alles Düstere meines politischen Engagements besser aushalten.
Wie stellen Sie sich denn ein selbstbestimmtes Leben vor, wenn Sie Unterstützung benötigen?
Nicht dass ich nicht fähig wäre, Hilfe anzunehmen, aber sollte ich nicht mehr in der Lage sein, alltägliches selbst zu schaffen, dann würde ich wahrscheinlich selbstbestimmt gehen wollen.
Können Sie sich vorstellen, in ein Alters- oder Pflegeheim zu ziehen?
Grundsätzlich ja. Vorausgesetzt der Betrieb engt mich nicht ein und lässt mir Freiräume in der Gestaltung meines Lebens.
Unsere Welt wird immer digitaler. Hilft die Digitalisierung älteren Menschen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen?
Ja, ganz bestimmt ist es eine grosse Hilfe, im Notfall auf eine Taste drücken zu können oder – jetzt zu Pandemiezeiten - trotz Besuchsverbot mit Freunden und Verwandten kommunizieren oder eine Bestellung aufgeben zu können! Doch die virtuelle Kommunikation wird nie die physische Präsenz eines lieben Menschen ersetzen können. Die Digitalisierung verändert uns mehr als uns lieb ist: Vor lauter Autonomie drohen wir den Bezug zu anderen Menschen, zur Gesellschaft, zu verlieren. Die Digitalisierung macht uns nicht nur autonomer und effizienter, sondern auch abhängiger und ein bisschen einsamer.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Kostenlos anmeldenTags
Community
Gesellschaft
Ethik
Politik