Der auf helveticcare.ch publizierte offene Brief von dir, liebe Maja Sommerhalder (42), an deine Eltern und letztlich auch an meine Generation - diejenige der Babyboomer - hat mich (60) inspiriert. Deshalb in den nachfolgenden Zeilen meine persönlichen Gedanken und Beobachtungen.
Zum Brief an die BabyboomerWie du, Maja, wuchs ich in einem wohlbehüteten Umfeld mit meinen beiden Schwestern auf. Auch wir durften noch Holzspielzeug (insbesondere Simmentaler Kühe😊) benutzen. Aber das Lego war schon damals aus Plastik. Keine Ahnung, ob zu jener Zeit noch Stoffe mit Nebenwirkungen darin enthalten waren und ob die Entsorgung von Legobausteinen ein Problem war.
Wie ist das eigentlich heute, sind die Legos nach wie vor aus Plastik? Und: Bringt die «Shared Economy» die Neuproduktion gänzlich zum Erliegen?
Einen Fernseher hatten wir ab meinem 6. Lebensjahr. Mein erstes Handy hatte ich so ungefähr mit 33 Jahren - kaum mehr vorstellbar!
Auch bei uns hatten meine Schwestern und ich alle Ausbildungschancen und alle Unterstützung seitens des Elternhauses. Vielleicht war es für mich als Mann etwas einfacher, das kann ich selbst nicht beurteilen. Aber auch meine beiden Schwestern konnten beste Ausbildungen geniessen.
In Bezug auf meine berufliche Karriere hatte ich es womöglich einfacher als meine Kolleginnen. Wobei, wenn ich das so richtig überlege, dann stimmt dies wohl auch nicht ganz: Damals war das Management «meiner» Versicherungsindustrie fast ausschliesslich besetzt von hohen Offizieren aus der schweizerischen Milizarmee.
Otto Bitterli hat sich ein Berufsleben lang an der Schnittstelle zwischen Privat- und Sozialversicherung bewegt. Er kommt ursprünglich von der Privatversicherungsseite (Winterthur) und hat dann bei der Sanitas als Geschäftsleitungsmitglied, als CEO und 1 Jahr als Verwaltungsratspräsident (VRP) gearbeitet. Aktuell ist er Berater und in mehreren VR und Boards tätig, unter anderem als VRP der Helvetic Care.
Ich selbst gehörte diesem «Gendre» nicht an. Ich meine, dass dieser Umstand wohl ebenso gewichtig war, wie das Geschlecht an sich. Das hat mich damals allerdings nicht beschäftigt. Ich habe meiner Arbeitsleistung stets vertraut, mich damit identifiziert und das wurde honoriert: Ich wurde gefordert und gefördert.
In Bezug auf meine aktuelle berufliche Situation hat sich das fundamental verändert. Zum Beispiel bei der Besetzung von VR-Mandaten. Da gilt in weiten Teilen konsequent «Ladies first». Das ist wohl auch richtig so. Ich kann das nicht abschliessend beurteilen.
Meine Erfahrung mit Verwaltungsräten ist ganz anders: Es fehlen leider an vielen Orten Menschen, die das Geschäft, die Organisationen und die Zusammenhänge wirklich verstehen, vollkommen egal welches Geschlechts und welches Alters. Weil dem so ist, wird in Verwaltungsräten allzu oft Politik gemacht, statt effektiv der Unternehmung geholfen.
Ich glaube, so vieles hat sich von meiner zu deiner Generation nicht geändert. Ich tat mich damals schwer mit dem «Militär», identifizierte mich mit «Make Love Not War», war für Abrüstung und gegen das «Bankgeheimnis»...
Es ging vor allem darum, sich als Jugendlicher vom Elternhaus, gegenüber Autoritäten, abzugrenzen und für eigenständige Werte einzustehen. Das ist – so meine ich – immer wieder, in jeder Generation, derselbe Abnabelungsprozess. Einzig die Themen ändern sich - oder?
In dem kleinen Dorf, in dem ich aufwuchs, da gab es im Wald eine ausgehobene Abfallmulde. Wenn man etwas entsorgen musste, ist man dorthin gefahren und hat es reingeschmissen. Das kam mir als Kind schon etwas komisch vor, das gestehe ich gerne ein.
Aber da gab es noch viel weniger Autos, Handys, PlayStations oder Flugzeuge. Die örtlichen Mulden sind längst professionellen und immer unsichtbareren Entsorgungsinstitutionen gewichen. Aber ist das Problem damit kleiner oder grösser geworden? Wie ist es in der Schweiz und auf der ganzen Welt?
Ich habe, wenn ich aktuelle Bilder von den vitalen Klima-Klebern sehe, den Eindruck, die gehen nach diesem «Klebe-Stress» bestimmt zur Erholung direkt in die Ferien.
Und wenn ich mir vorstelle, welche Klimabilanz der aktuelle Krieg hinterlässt, dann wird mir gleich schwindlig.
Dies ist in der Tat ein neueres und berechtigtes Anliegen. Die Frauen haben mit Bestimmtheit gleich viel oder mehr zu sagen als die Männer. Mit diesem tiefen Verständnis bin ich in den 60er- und 70er-Jahren aufgewachsen.
Gepaart war dies mit einer mittlerweile überholten Bewunderung für die emotionale Überlegenheit der Frau gegenüber dem Mann. Die weibliche «emotionale Überlegenheit» ist gesellschaftlich wohl (noch) nicht ganz gewichen. Sie offenbart eine späte Stilblüte: Dies veranschaulicht extravertierte Selbstdarstellungen der Weiblichkeit. Aber klar: Die Entwicklung hin zum stereotypen, genderunabhängigen und in jeder Hinsicht egalitären Verhalten ist Mainstream.
Führt nicht genau diese Standardisierung zu mehr Uniformierung und womöglich über die Zeit zum Gegenteil der angestrebten Diversität?
Ein seit Jahren bestimmendes und nachhaltiges Thema ist die Digitalisierung. Sie wälzt die Wirtschaft über die Zeit um. Die Industrialisierung mit den festgelegten Wirtschaftssektoren und dem Schreckgespenst der Automatisierung ist mehr oder weniger vorbei. Sie wird industrieübergreifend von neuen Value Propositions (Werteversprechen) und den wachsenden Algorithmen für erhöhten Kundennutzen abgelöst.
Und das alles passiert einfach. Unbeholfen bewegen wir uns gesellschaftlich entlang dieser neuen Wirtschaftsordnung. Daten-, technologie- und vom Konsumenten getrieben wird die wirtschaftliche Welt dereinst aussehen – bye, bye mit aller Sozialromantik.
Zu denken gibt mir, dass es sich bei vielen der aktuellen digitalen Bestrebungen mehr um Methoden und Prozesse statt um Inhalte dreht: Neue Tools, um des Tools Willen? Agil, um des Agilen Willen? Performance Measurement nur bezogen auf mein kleines Gebiet? New Work - einfach per Definition cool?
Zu denken gibt mir persönlich weiter, dass die digitale Welt wohl viel stärker von autoritären Staaten oder technologischen Grossunternehmen als von demokratischen Systemen geprägt sein wird. Zugegeben: Diese Sorge ist das letzte Aufbäumen von Sozialromantik meiner Generation.
Liebe Maja, bis «deine Generation» an der Macht ist, dauert es noch lange. Immer mehr wird die Welt von immer älteren Personen bestimmt. Dies ist wohl eine der grössten Herausforderungen unserer Zeit. Während die vorhergehenden Generationen zeitig loslassen mussten oder konnten, ist dies aktuell nicht mehr der Fall.
Die Macht wird von den Alten ausgeübt, von Biden, Trump, Putin und wie sie alle heissen. Das ist wohl das grösste Versagen meiner Generation, der Babyboomer. Oder: Ist das bereits von der Vorgängergeneration so angelegt worden?
Unsere (westliche, europäische, schweizerische) Welt dreht sich immer mehr hin zu individuellen, persönlichen Bedürfnissen. Da werden alle möglichen Themen der Solidarität zwar stark diskutiert. Aber gibt es sie denn wirklich noch, die gelebte Solidarität? Basiert diese nicht vielmehr auf «Deklarationen»?
Was ist genau die Solidarität der Schweiz mit Europa? Hört diese bei «Kriegsmaterial» oder der «selbstverständlichen Besserstellung in Bezug auf das Lohnniveau» auf?
Auch die Generationensolidarität ist dabei ein gutes Thema: Das beginnt mit der Frage, welcher Generation ich vom Verständnis her effektiv zugehörig bin. Bin ich ein Babyboomer mit dem Wertverständnis der 68er-Generation oder einer danach?
Du, liebe Maja, gehörst du musikalisch gesprochen zur Generation des Technosounds?
Hat nicht längst das «Segment of One», also das Individualisierte oder Personalisierte, die Generationsproblematik überholt?
Wie dem auch immer sei: Die älteren Generationen haben sich immer mit klaren Mustern von Musik, Kunst oder gesellschaftlichen Entwicklungen identifiziert. Das gab einen klaren Halt. Das stiftete Identität. Mit der Personalisierung scheint dies – zumindest aus der Perspektive der Babyboomer – nicht mehr gegeben zu sein. Ich frage mich, woran sich dereinst die nächsten Generationen orientieren werden. Das betrifft wohl weder deine noch meine Generation, liebe Maja. Ich betrachte dies als sehr schwierige Aufgabe für die jungen, heranwachsenden Menschen.
In diesem Sinne ist es sehr wünschenswert, dass die neuen Generationen mehr nach Sinnstiftung und weniger nach Wohlstand streben und damit neue Identitäten schaffen. Wie das alles gehen soll, ist mir schleierhaft. Auch das passiert wohl einfach.
Ich beobachte in der Schweiz besorgt, wie selbstverständlich der Wohlstand von der neuen Generation jeweils als gegeben übernommen wird. Die Differenzierung zur Vorgängergeneration dreht sich dann nur noch um das Rundherum. Genau dieser in Watte gekleidete und selbstverständliche Wohlstand hat in der Schweiz bereits meine Generation geprägt. Sie tut es in noch weit stärkerem Masse mit den folgenden.
Ich wünsche mir, dass eine Generation heranwächst, die sich wirklich fundamental neu erfindet. Das wird Freuden und Leiden mit sich bringen, aber auch innere Kraft auslösen.
Noch bewegen wir uns nach meiner Empfindung eher entlang des sukzessiven Unterganges analog des römischen Reiches. Aber auch da gab es eine neue Zukunft, die bis hin zu uns geführt hat!
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