Viele vergleichen das Veränderungspotential der Digitalisierung mit jenem der industriellen Revolution. Da blieb in Europa kein Stein mehr auf dem anderen, als zwischen 1740 und 1920 die maschinelle Kraft in vielen Industriezweigen umgesetzt wurde. Die Heimarbeit wurde durch die Fabrikarbeit ersetzt, es entstanden grosse Industriestädte, die Armut war immens und erst mit der Zeit konnten soziale Systeme aufgebaut werden, die vor Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit schützen. In der Schweiz war man sogar erst 1948 mit Einführung der AHV im Alter abgesichert – die BVG wurde gar 1982 zur Pflicht.
Kostenlos folgenWo und wie ist diese Revolution mit der Digitalisierung vergleichbar? Was bedeuten die aktuellen Veränderungen für die Babyboomer und für die künftige Generationensolidarität? Einige Gedanken:
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In der industriellen Revolution wurde die harte Arbeit von Menschenhand sukzessive durch Maschinen ersetzt. In der digitalen Revolution wird die Arbeit des menschlichen Gehirns (nicht der Emotion) sukzessive durch die Rechenleistung ausgetauscht.
Otto Bitterli (59) ist Verwaltungsratspräsident bei Helvetic Care und selbstständiger Berater im Gesundheitswesen. Von 2005 bis 2019 war er CEO und Verwaltungsratspräsident der Sanitas Krankenversicherung.
Die beiden Revolutionen haben deshalb eine hohe Vergleichbarkeit: Ganze Bereiche der bisherigen Arbeitsleistung werden über die Zeit durch Maschinen bzw. durch Rechenleistung ersetzt. Damit werden sich die Wirtschaft und die bisherige Arbeitsleistung fundamental verändern und erneuern. Fiel damals die Heimarbeit gänzlich weg, so werden aktuell viele menschliche Interaktionen durch digitale Prozesssteuerungen abgelöst. Der Computer ist in vielerlei Hinsicht berechenbarer und zuverlässiger als der Mensch – selbstfahrende Fahrzeuge, voll digitale Kreditprozesse bei Banken oder übergreifende neue Lösungen über mehrere Industrien hinweg sind nur einige Beispiele.
Die im Industriezeitalter gebildeten Branchen und Verantwortlichkeiten (Banken, Versicherungen, Maschinenindustrie etc.) werden verwischt, aufgebrochen und es werden sich neue bilden. Die im Sozialstaat bestehenden Solidaritäten werden infolge der immer stärker um sich greifenden Personalisierung auf den Prüfstand gestellt. Das Veränderungspotential von industrieller und digitaler Revolution ist also grundsätzlich vergleichbar.
Während in der industriellen Revolution sämtliche Gesellschaftsschichten über den Arbeitsprozess direkt betroffen waren, wird in der digitalen Revolution der grösste Anteil der Menschen «nur indirekt» betroffen sein, da sie sich im sogenannten «Ruhestand» befindet.
Die Lebenserwartung betrug 1900 im Durchschnitt nicht ganz 47 Jahre und liegt demgegenüber aktuell bei circa 84 Jahren. Oder anders gesprochen: Während es bei der industriellen Revolution keine Generation «Alte/Pensionierte» gab, ist diese Population in der digitalen Veränderung die Gewichtigste und in den nächsten 20 Jahren die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe. Oder noch anders ausgedrückt: Die aktuellen Babyboomer wären - 100 Jahre zurückversetzt - längst begraben.
Die Digitalisierung ist ein Kampf um Daten und vor allem um Algorithmen. Die Frage ist, wer in diesem Kampf aktiv mitwirken kann und wer letztlich zu den Gewinnern zählt. Die Gefahr, dass mit den digitalen Veränderungen die «Wissenden», die «Reichen», die «Vernetzten» und letztlich damit die «Nordländer» einen Gewinn daraus ziehen, ist enorm hoch.
Denn einerseits ist es ein Kampf um Wissen (Human Power) – also um jene Leute, die im maschinellen und neuronalen Lernen entsprechend ausgebildet sind. Die erwähnten grossen Player investieren massiv und seit Jahren in das Thema der künstlichen Intelligenz. Anderseits ist es ein Kampf um Daten. Nur mit genügend grossen Datenmengen können valide Erkenntnisse erzielt werden.
Damit ist an sich klar, dass Nationen mit sehr guten Universitäten und technischen Hochschulen einen Standortvorteil (z.B. die Schweiz) haben. Damit ist auch klar, dass jene Staaten mit grossen und verfügbaren, sprich verwendbaren Daten (z.B. China) im Vormarsch sind.
Interessant ist, dass sich sowohl in den USA als auch in Asien das Bild der grössten an den Börsen gelisteten Unternehmen in den letzten 15 Jahren vollständig verändert hat: Die klassischen industriellen Grossbetriebe sind von den digitalen Unternehmen verdrängt worden. Nur in Europa ist genau diese Entwicklung nicht erfolgt. Nach wie vor stehen traditionelle Unternehmen an der Spitze.
Europa und namentlich die Schweiz hat - insbesondere im Vergleich mit den USA und China - jedoch ein nicht zu unterschätzendes Asset: Die Fertigungstiefe von bestehenden Produkten, Prozessen und Dienstleistungen ist enorm hoch. Genau dieses Wissen gilt es, digital abzubilden. Ebenfalls von Bedeutung dürfte die zugrunde liegende Infrastruktur sein. Damit meine ich Netzwerke, Security oder die mit digitalen Geräten vernetzte Gesellschaft. Auch diesbezüglich dürfte die Schweiz einen guten Absprungbalken haben.
Man findet Literatur darüber, wie sich die Digitalisierung auf die sich aktuell im Arbeitsprozess befindenden Generationen (X, Y, Z) auswirken könnte. Es gibt jedoch wenig Literatur darüber, welchen Einfluss die Digitalisierung auf Menschen im Ruhestand hat. Es gibt seitens der jungen Generationen die Befürchtung, dass die «Alten» jeglichen Fortschritt verhindern könnten, da sie politisch die Mehrheit bilden. Es gibt Diskussionen darüber, dass den älteren Arbeitnehmenden das Einzelbüro (und damit verbunden der ganze Status und Stolz eines Berufslebens) weggenommen wird und dies dem Open-Space-Büro zu weichen hat.
Es gibt die Feststellung, dass viele nach wie vor gerne in Frühpensionierung gehen, obwohl alle von Arbeitskräftemangel sprechen. Es gibt weiter die Feststellung, dass viele Pensionierte gerne weiterarbeiten möchten (aber in anderer Form), um ihrem Leben im Alter Sinn zu geben.
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Auch zeichnen sich gewisse Diskussionen langsam, aber sicher ab: Pensionskassen werden saniert und Umwandlungssätze gesenkt. Die selbstverständliche Subventionierung von jung zu alt wird zunehmend infrage gestellt. Rentenalter sollen erhöht werden. Auf der anderen Seite wächst eine Generation heran, die sich nicht mehr auf «Rente» verlassen kann. Arbeitsmodelle, die es erlauben das Arbeitsleben zu strecken (Teilzeit, Projektarbeit als Freelancer, Auszeiten), haben Hochkonjunktur. Klassische Karrieremodelle gehören immer mehr der Vergangenheit an. Diskussionen um Mindesteinkommen werden salonfähig.
Das alles umfassende Losungswort ist «Life long learning.» Interessant, dass sich das lebenslange Lernen sehr stark auf klassische Aus- und Weiterbildungen in Schulen bezieht und der Aspekt «im Leben lernen», durch die «Arbeit lernen» stark in den Hintergrund gerutscht ist.
Jetzt stehe ich am Ende meiner beruflichen Laufbahn. Die letzten Jahre glichen einem Marathon gegen Zeit, Geist (auch den eigenen) und vor allem der Rettung eines einigermassen gesicherten Wohlstandes. Eigentlich hat man mir schon längst zu verstehen gegeben, dass die Zukunft nicht mehr mit mir geplant ist. Das ist verständlich. Gleichwohl kann ich es persönlich schlecht einordnen. Ich meine, ich habe noch circa 20 Jahre vor mir - es herrscht Mangel an Arbeitskräften und gleichwohl interessiert sich niemand mehr für mich.
Dabei möchte ich gerne noch was machen - einfach nicht mehr auf die bisherige Weise. Ist es besser, wenn ich was ganz Konkretes mache: Garten, Kochen, Aufräumen, Putzen …? Oder kann ich mich nochmals gesellschaftlich einbringen? Ich möchte etwas machen, das mich mit Stolz erfüllt und bei dem ich mit anderen Menschen verbunden, in einem sozialen Netzwerk, bleibe.
Egal wie, was ich seitens meines letzten Arbeitgebers mitgenommen habe, ist, dass «lebenslanges Lernen» die wichtigste Herausforderung ist. Aber was heisst das für mich? Was soll ich denn lernen - kann ich noch was lernen?
Ganz bescheiden betrachtet: Ich möchte endlich mein Handy im Griff haben: Kann ich damit Konferenzen schalten? Kann ich damit meine Enkel erreichen? Kann ich damit Zeichnungen, Fotos, Gedanken aufschreiben und versenden? Was muss ich tun, damit ich das alles lerne und die anderen mich nicht auslachen?
Oder: soll ich an eine Altersuniversität und nochmals was ganz Neues erlernen? Soll ich mich in Alterspflege ausbilden lassen? Bin ich geeignet für das?
Dies ist eine sehr gefährliche Überlegung! Mit 65 hat man im Durchschnitt noch 20 Jahre vor sich. Überlegen wir mal 20 Jahre zurück: Um das Jahr 2000 kamen die Handys erst so richtig auf. Hätten wir dies verpasst, dann wären wir wie abgeschnitten, in vielerlei Hinsicht ausgegrenzt. Und, die Folgen davon haben wir im Zusammenhang mit den Covid-Lockdowns erlebt: Menschen in Heimen in vollständiger Isolation und ohne jeden Kontakt.
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Es ist davon auszugehen, dass die Entwicklung in den nächsten 20 Jahren ebenso rasant fortschreiten wird wie in den voran gegangenen. Nur schon als Konsument muss ich irgendwie dabei bleiben. Ich will doch mein Essen von zu Hause aus bestellen können. Ich will doch das Ferienangebot, die Wohnung etc. selbständig buchen können. Ich will doch mit meinen Freunden zumindest über Social Media verbunden bleiben. Ich will für analoge Leistungen nicht bezahlen müssen (Bank, Versicherung etc.)!
Statt sich zurückzuziehen, dürfte sich eine aktive und vorwärts gerichtete Haltung sehr lohnen: Soll ich den Pflegeroboter - der in 20 Jahren wohl Realität ist - bereits heute in meinen Alltag lassen? So hätten wir uns bereits aneinander gewöhnt, wenn ich dann tatsächlich und immer mehr auf ihn angewiesen bin.
Soll ich das Haus, die Wohnung so umbauen, dass mir die technologischen Möglichkeiten der Zukunft offenstehen? Wäre nicht genau das eine sinnvolle Investition? Was passiert auf dem Sektor der lebensverlängernden medizinischen Möglichkeiten - will ich das? Was bedeutet Individualmedizin auf dem Gebiet von Krebs etc.? Gibt es in Zukunft eine Pille, die mich vor Fettleibigkeit bewahrt? Möglich ist es. Denn der Fortschritt ist enorm.
Haben Sie mal George Orwell «1984» gelesen? Darin beschreibt er eine Welt, die man 40 Jahre vorher nicht für möglich gehalten hat. Und: Sehr vieles in dem Buch ist tatsächlich Realität geworden.
Genau so dürfte es mit unserer unmittelbaren Zukunft aussehen. Ich möchte zumindest wissen, wie ich meine digitale Identität löschen kann, damit ich digital nicht ewig weiterlebe.
Wenn ich nicht verstehe, was rund um mich passiert, wie soll ich da selbstbestimmt leben und selbst entscheiden können? Wie bleibe ich in dieser sich rasant verändernden Welt à jour? Kann ich mich aktiv mit jüngeren Menschen verknüpfen, um die sich verändernde Realität besser zu verstehen?
Ein zentraler Lebensnerv dürften Communitys wie helveticcare.ch sein. Da kann ich mich informieren und vernetzen. Da kann ich mich inspirieren lassen und Meinungen austauschen. Da kann ich Kontakte aufbauen und mich einer sozialen Gemeinschaft, einer Bewegung, anschliessen.
Und: Ich habe doch Fantasie. Weshalb nicht eine künftige Welt denken und mir vorstellen, wie ich darin leben möchte, wie ich mich da bewege und welche technologische Unterstützung ich gerne in Anspruch nehme? Wie ist es zum Beispiel mit virtuellen Reisen?
Es ist bereits heute - ohne die Vorstellung, was digitale Möglichkeiten in Zukunft bringen - schwierig, die richtigen Entscheide zu fällen: Bleibe ich finanziell unabhängig, wenn ich eine Rente beziehe und künftig Inflationen die Wirtschaft bestimmen? Ist es gescheiter, Kapital zu beziehen und damit Anlagerisiken selbst zu tragen?
Eines ist aufgrund der vorhergehenden Ausführungen klar: Die Welt wird sich weiter und eher schneller denn langsamer drehen. Die Digitalisierung wird Schritt für Schritt weiter Einzug halten in unserem Leben. Zu viele positive Aspekte sind damit für die Konsumentinnen und Konsumenten verbunden, als dass sie sich verhindern liesse.
Die ältere Generation steht zwar nicht mehr im Erwerbsleben und ist damit vermeintlich «nur als Konsument» betroffen. Hingegen sind die älteren Menschen ein gewichtiger und wachsender Teil unserer Gesellschaft. Damit tragen wir Verantwortung dafür, dass sich die Welt erneuern kann. Wir müssen aufpassen, dass wir für die jüngere Generation nicht zu den Verhinderern werden. Und, wir müssen verstehen, dass das Leben auch im Alter nicht «nur» das Sterberisiko in sich trägt. Wir müssen aktiver Teil der Gesellschaft bleiben.
Wir kommen aus einer Welt «jetzt habe ich ein Leben lang gearbeitet, jetzt habe ich das Recht auf ein Leben in Frieden und (relativem) Wohlstand». Ich meine, dass dies ein falscher Ansatz ist. Wir können in Zukunft nicht alle Risiken ausschliessen. Wenn wir dies tun, dann leben wir nicht mehr. Und genau das wird uns mit der Digitalisierung und der damit einhergehenden Veränderung vor Augen geführt. Zu vieles wird sich ändern, das auch uns betrifft. Stellen Sie sich vor, der Sozialstaat gehört bereits in 10 Jahren der Vergangenheit an? Wer würde mir dann die AHV bezahlen?
Genau darauf sollten wir uns einstellen!
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