Wenn es um die Versorgungssicherheit und Gesundheit geht, ist die Technik nicht mehr wegzudenken. Dazu drei Beispiele vom letzten halben Jahr aus meinem Umfeld, die mich sehr beschäftigt haben:
- Ein alleinstehender Mann (88) leidet am Samstagabend um 22 Uhr unter akuten Darmkoliken. Er kontaktiert die Telemedizin seiner Krankenkasse und weist sich so «selbst» ins Spital ein. Bereits um vier Uhr wird er operiert - eine hervorragende Leistung des Patienten, des Telemedizin-Anbieters und des Spitals.
- Eine Frau (62), welche immer wieder an Ohrenentzündungen leidet, nimmt mit dem Telemedizin-Anbieter ihres Versicherers Kontakt auf. Sie weiss genau, was sie benötigt, und kennt bereits den Spezialisten. Der Anbieter zwingt sie - sollte der Versicherer die Kosten übernehmen - zum Hausarzt zu gehen, der ihr nachweislich bereits eine falsche Behandlung gegeben hatte. Sie geht letztlich auf eigene Kosten direkt zum Spezialisten.
- Ein Mann (62) leidet in der Nacht an Schmerzen im Brustkorb und meldet sich am frühen Morgen beim Hausarzt. Einen Termin erhält er erst am späten Nachmittag von der Praxisassistentin. Ein kurzer Blick und der Befund des Hausarztes genügen: Er hatte bereits einen Herzinfarkt erlitten und muss akut im Notfall behandelt werden. Seine Frau bringt ihn zur Notfallstation und die reagieren sensationell schnell: Um 21 Uhr ist der Mann bereits operiert und wird mit einem Stent versehen auf die Bettenstation gebracht. Grosses Glück gehabt und trotzdem die Frage: Wäre eine telemedizinische Konsultation viel schneller gewesen?
Alles Wissenswerte zu den Hilfsmitteln im Alter erfahren Sie auf unserer Themenseite.
Womit muss ich eigentlich rechnen?
Was kann mir alles passieren, welche Diagnosen kann ich selbst stellen und wie bin ich vernetzt, um Hilfe zu erhalten?
Es ist klar: Bei vielen unvorhergesehenen Ereignissen ist Soforthilfe entscheidend. Wer holt mich beim Spaziergang im Wald ab, wenn ich stürze und ich mich nicht mehr bewegen kann? Liege ich stundenlang zu Hause am Boden, wenn ich in der Badewanne umfalle und niemanden alarmieren kann?
Oder noch schlimmer: Ich alarmiere, man möchte mich versorgen, hat aber keinen Zugang zur verschlossenen Wohnung. Derartige Fragen oder Szenarien beschäftigen zahlreiche Menschen und ihre Angehörigen. Die permanente Erreichbarkeit und der digitale Fortschritt machen viel möglich. Doch ist dies alles sinnvoll? Worauf muss ich achten? Wie kann ich mich orientieren? Mehr zum Thema Wohnen im Alter.
Der Kampf um die Patienten
Zudem: Zahlreiche Player im Gesundheitswesen möchten die Kundenschnittstelle beherrschen. Wer zuerst beim Patienten ist, kann die nachfolgenden Schritte beeinflussen - kann «steuern». Dies hat mit optimaler Behandlung zu tun. Dies hat aber auch mit Umsatz der jeweiligen Leistungserbringer und mit Kosten zu tun. Entsprechend gross, umstritten und fragmentiert ist der Markt.
Diese Entwicklungen sind in vielerlei Hinsicht für die Konsumentinnen und Konsumenten positiv: Eine Vielfalt an Lösungen gibt Wahlmöglichkeiten! Auch ist unbestritten, dass viele technischen Errungenschaften die eigene Sicherheit, Freiheit und Unabhängigkeit erhöhen und ein selbstbestimmtes Leben im Alter ermöglichen. Zudem bringen sie die Medizin zum Menschen und nicht wie früher den Menschen zur Medizin.
Unterschiedliche Industrien
Es ist jedoch schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen. Da gibt es verschiedene Industrien, die alle mit demselben Anliegen von Sicherheit und Freiheit auf ihre potenziellen Kunden zukommen. Das sind die:
- Uhrenindustrie: Immer häufiger werden Alarmfunktionen bei Uhren direkt integriert. Mittlerweile gibt es sogar Broschen, welche dezent sind und als getarnte Alarmsysteme funktionieren.
- Immobilienindustrie: Sie stattet Ihr Haus oder Ihre Wohnung mit sogenannten Smart-Living-Lösungen und entsprechender Sensorik aus.
- Medizin: Telemedizin wird bei vielen alternativen Versicherungsmodellen angeboten oder gar aufgezwungen. Doch ist dies sinnvoll? Wie gut sind die Telemedizin-Anbieter mit Ärzten oder Spitälern vernetzt? Weshalb muss ich häufig, wenn ich denn schon angerufen habe, trotzdem noch zum Hausarzt? Gibt es telemedizinische Modelle für Privatpatientinnen und Patienten?
- Telefonie- / Technologieanbieter: Sie werben mit einer integrierten Smartphone Watch für mehr Sicherheit. Ist diese wirklich die Lösung für viele Probleme?
- Apps und individuelle Hilfsmittel von allen Seiten: Von unterschiedlichen diagnostischen Selftrackern über spezifische Medikamente bis zu diagnoseorientierten Apps gibt es alles und in einer enormen Vielfalt und Breite.
Worauf ist zu achten?
- Ist das Angebot rund um die Uhr sichergestellt?
- Bezieht sich das Angebot «nur» auf Unfälle oder auch auf Krankheiten und welche weiteren Dienstleistungen gibt es?
- Ist die Technologie so, dass immer eine Erreichbarkeit gegeben ist (drinnen, unter der Dusche, draussen, ohne/mit W-LAN etc.)? Kann man mich im Notfall auch bergen?
- Habe ich Zugang zu akkreditierter Medizin?
- Komme ich innert nützlicher Frist zu Laborbefunden (Blut, Urin)?
- Können die beanspruchten Leistungen gegenüber der Krankenkasse abgerechnet werden oder muss ich diese selbst bezahlen?
- Ist die Krankengeschichte für mich und die mich behandelnden Personen stets verfüg- und verwendbar?
- Können die erhobenen Daten medizinisch weiterverwendet werden?
- Ist der Anbieter medizinisch als Arztpraxis und/oder Laborbetreiber zugelassen, akkreditiert?
- Geht es nur um «Steuerung» und um Kosten oder bleibt meine Arzt- und Spital-Wahlfreiheit erhalten?
- Wie sind die unterschiedlichen Angebote miteinander vernetzt? Ist mit dem Alarmsystem auch der Zugang zur Wohnung (die Rettung) gekoppelt? Werden bei einem Alarm auch von mir bestimmte Personen informiert und beigezogen? Ist der Alarm mit medizinischer Soforthilfe gekoppelt?
- Kann ich die allgemeinen Empfehlungen auf meine persönlichen Bedürfnisse und Situation einstellen (z.B. mit oder ohne Symptomchecker)?
- Wie viel bezahle ich für die Uhr, das Smartphone, die Smart-Living-Lösung und für die damit verbundenen Abonnements?
- Brauche ich eine zusätzliche Sicherheit, wenn ich den Zugang zur Telemedizin via alternatives Versicherungsmodell habe? Wähle ich gescheiter ein vom Versicherer unabhängiges telemedizinische Angebot?
- Wer steckt hinter dem Angebot? Habe ich Vertrauen und lässt sich das Angebot über die Zeit auch auf meine sich verändernden Bedürfnisse anpassen?
Wie kann ich mich umfassend orientieren?
Es ist sehr anspruchsvoll, sich umfassend orientieren zu können. Helveticcare.ch wird zu diesem Themenkomplex deshalb verschiedene Artikel publizieren.
Über den Autor
Otto Bitterli (60) hat sich ein Berufsleben lang an der Schnittstelle zwischen Privat- und Sozialversicherung bewegt. Von 2005 bis 2019 war er CEO und Verwaltungsratspräsident der Sanitas Krankenversicherung. Aktuell ist er Berater und in mehreren VR und Boards tätig, unter anderem als VRP der Helvetic Care.