Unser Leben dauert immer länger – auch in der Schweiz: Die in den Industrienationen in diesem Jahrhundert Geborenen werden immer häufiger das 100. Lebensjahr erreichen – und dies meist bei erstaunlich guter Gesundheit. Heute leben knapp 1500 über 100-Jährige in der Schweiz. Im Jahr 2050 werden es wahrscheinlich 15'000 sein – eine Verzehnfachung beziehungsweise fast die aktuelle Bevölkerungszahl des Kantons Appenzell Innerrhoden oder der Stadt Locarno.
Das Konzept unserer Altersvorsorge wurde zu Zeiten erdacht, in denen die Lebenserwartung kaum das gesetzliche Rentenalter überdauerte. Eine Anpassung dieser in einem komplexen Diskurs entstandenen Vereinbarungen ist sehr schwierig. Es handelt sich um langfristige Versprechen zwischen den Generationen.
Als Konsequenz gewinnt die private Vorsorge und Vermögensbildung immer mehr an Bedeutung. Die Vorbereitung auf ein möglicherweise hundertjähriges Leben erfordert Voraussicht und ein Überdenken traditioneller Lebensläufe. Die Botschaft der Demografie lautet: Wer mit 65 in den Ruhestand gehen will und ab dann kein Erwerbseinkommen mehr erzielt, muss über finanzielle Ressourcen für weitere 35 Jahre verfügen.
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Ausserhalb Asiens lebt niemand so lange gesund wie wir
Unsere absehbar längeren Lebenswege führen zu einer Neugestaltung der «Karte des Lebens». Drei Begriffe für die Gestaltung eines immer längeren Lebens müssen in das Zentrum unserer Lebensplanung rücken.
«Life Span» bezeichnet die gesamte Spanne unseres Lebens. Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz beträgt aktuell 81,6 Jahre für Männer und 85,1 Jahre für Frauen. Nur in Japan ist diese noch höher.
«Health Span» ist die gesunde Spanne in unserem Leben. Aktuell liegt die Lebenserwartung in guter Gesundheit für Schweizer Männer bei 72,2 Jahren und für Frauen bei 72,8 Jahren. Dies ist der vierthöchste Wert der Welt und der höchste ausserhalb Asiens. Schweizer und Schweizerinnen leben also nicht nur lange, sondern auch lange gesund. Die Lebensspanne mit guter Gesundheit ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen und wird mit grosser Sicherheit weiter steigen.
Über die Autoren
Hans Groth ist Verwaltungsratspräsident des World Demographic & Ageing (WDA) Forum. Manuel Buchmann ist Forschungsleiter am WDA Forum
Dabei stellt sich immer mehr die Frage, wie insbesondere die gesunden Lebensjahre ab Renteneintritt mit 65 Jahren mit sinnstiftenden Aktivitäten gefüllt werden können – und wie diese Jahre finanziert werden.
Hier kommt der dritte neue Begriff ins Spiel: «Wealth Span». Wie viele Jahre kann das angesparte Rentenvermögen ein erfüllendes Leben finanzieren? Oder wie kann man auch im Alter weiter Wohlstand erwirtschaften? Dies ist besonders wichtig, weil der vermeintliche Ruhestand ein kostenintensiver Lebensabschnitt ist: im Alter 65 bis 79 durch hohen Konsum, die Erfüllung von Träumen und Wünschen und so weiter. Später, im Alter 80+, zusätzlich aufgrund eines erhöhten Bedarfs an Pflege und Unterstützung für die Lebensführung.
Sparer versus «Entsparer»
Der aktuelle demografische Wandel unserer Gesellschaft birgt aus der Perspektive des Kapitalmarkts einen neuen Zusammenhang, den wir in dieser Form noch nie erlebt haben. Einerseits werden wir immer älter. Für den individuellen Sparer bedeutet dies, dass über das Erwerbsleben hinweg mehr gespart werden muss, um eine immer längere Rentenphase zu finanzieren.
Andererseits gibt es immer mehr ältere Personen – nicht nur weil die individuelle Lebensspanne steigt, sondern vor allem weil die zahlreichen Babyboomer nun in Rente gehen. Es gibt immer mehr «Entsparer», also Personen, die ihr angespartes Vorsorgevermögen Schritt für Schritt aufbrauchen werden. Da dies in der gesamten entwickelten Welt mehr oder weniger gleichzeitig passiert, dürfte diese Entwicklung einen Effekt auf die Anlagemärkte haben.
Auswirkungen sind für alle Anlageklassen zu erwarten: Obligationen, Aktien oder Immobilien und so weiter. Exemplarisch beschreiben wir im folgenden zwei gegenläufige Effekte auf erwartete Aktienkurse.
Finanzfragen: mangelhafte Kenntnisse
Aufgrund immer längerer Life Spans, Health Spans und Wealth Spans entstehen einerseits höhere Anreize für langfristiges privates Sparen und ein langsameres Entsparen im Alter. Das heisst: eine höhere Nachfrage nach Aktien und damit höhere Aktienpreise.
Voraussetzung dafür ist, dass die Bevölkerung diese Effekte versteht und entsprechend handelt. Dies ist aktuell noch kaum der Fall. Umfragen zeigen, dass insbesondere jüngere Menschen (Generationen Y und Z) in der Schweiz über eine mangelhafte «Financial Literacy» verfügen.
Gerade diese Generationen, die noch die längste Zeitspanne vor sich haben, um sich auf ein hundertjähriges Leben vorzubereiten, tun sich derzeit schwer, sich mit Konzepten wie Zinseszinseffekten oder der Diversifizierung eines Portfolios auseinanderzusetzen.
Es wird Gewinner und Verlierer geben
Andererseits gibt es immer mehr Entsparer, was die Nachfrage nach Aktien senkt und sich negativ auf die Kursentwicklung auswirkt. Welcher Effekt am Ende überwiegt – und wann –, ist nicht klar. Vieles deutet auf ein anspruchsvolles und komplexer werdendes Umfeld am Finanzmarkt hin.
Das vertiefte Verständnis von demografischen Entwicklungen und Interaktionen eröffnet aber auch neue Anlagechancen. Es ist beispielsweise erwiesen, dass ältere Anleger eine höhere Präferenz für dividendenausschüttende Aktien haben. Diese Tatsache könnte auf langfristige Kursgewinne solcher Aktien hindeuten.
Und dann gibt es auch Branchen und Unternehmen, die in besonderem Masse von einem längeren Leben und einem höheren Anteil an Älteren in der Bevölkerung profitieren. Es wird also Gewinner und Verlierer geben.
Demographic Risk Indicator ist hilfreich
Um eine Übersicht über alle diese Effekte zu behalten, kann ein «Demographic Risk Indicator» für die gängigen Anlageklassen hilfreich sein, der auch die jeweiligen altersspezifischen Präferenzen der Anleger berücksichtigt. Ein solcher Indikator stellt die demografischen Risiken von konkreten Finanzmarktprodukten vergleichend dar. Im Beispiel einer Aktie würden dazu unter anderem demografisch bedingte Nachfrageverschiebungen in den Absatzmärkten oder die Fachkräfteverfügbarkeit an den Produktionsstandorten quantifiziert.
Anhand eines solchen Indikators kann sehr schnell verglichen werden, wie ein Finanzmarktprodukt für den demografischen Wandel gut positioniert ist. Ein derartiger «Demographic Risk Indicator» wird aktuell vom WDA Forum entwickelt.
Investieren mit langem Zeithorizont
Wir alle müssen uns künftig intensiver damit beschäftigen, wie sich die Demografie finanziell auswirkt und wie wir unser Geld am besten anlegen – für ein gelingendes 100-jähriges Leben. Die private Altersvorsorge wird immer wichtiger, um den gewohnten Lebensstandard bis in ein hohes Alter sicherzustellen. Sie wird zum Schlüssel für immer längere Lebensspannen. Der demografische Wandel wird die Finanzmärkte zweifelsohne beeinflussen.
Ein aktives Auseinandersetzen mit der Materie und dem Investieren mit einem langen Zeithorizont ist das Gebot der Stunde. Wer diese Trends heute versteht und entsprechend handelt, wird morgen ein finanziell unbeschwertes Leben geniessen dürfen.
Der Artikel erschien ursprünglich im Magazin Schweizer Monat. Herzlichen Dank für die Zweitverwertung.