Herr Stadelmann, Sie leiten das Zentrum für künstliche Intelligenz an der ZHAW. Das klingt nach Science-Fiction.
Thilo Stadelmann: Nein, künstliche Intelligenz (KI) kommt bereits heute in vielen Lebensbereichen zum Einsatz und leistet beeindruckendes. So produziert und analysiert sie Kunst und erkennt Sprachbilder oder Krebszellen. Oder denken Sie an selbstfahrende Autos. Diese Entwicklungen werden noch weitergehen, doch es gibt auch Grenzen. Künstliche Intelligenz kann nicht alles.
Was schafft sie nicht?
KI stösst bei Dingen an ihre Grenzen, die auf den ersten Blick gar nicht so kompliziert erscheinen. Zum Beispiel kann sie nicht meine Mails beantworten oder das Geschirr aus der Abwaschmaschine ausräumen. Diese Vorgänge sind zu variabel. Künstliche Intelligenz kommt eher bei repetitiven Dingen mit begrenztem Kontextverständnis zum Einsatz. Beispielsweise das eigentlich kompliziertere Prüfen von juristischen Verträgen oder das Erstellen einer Diagnose anhand von medizinischen Bildern. Trotzdem ersetzt KI den Arzt nicht. Er muss immer noch selbst schauen, welcher der Vorschläge möglicherweise zutrifft.
Dass KI viele Berufe überflüssig macht, wird aber immer wieder befürchtet. Zum Beispiel die Pflegefachleute im Heimen. Werden einst Roboter Seniorinnen und Senioren pflegen?
Das glaube ich nicht. Auch in der Pflege sind viele Entscheidungen nötig, die die künstliche Intelligenz nicht ausführen kann, da sie «gesunden Menschenverstand» benötigen. Wie soll denn KI erkennen, was ein Heimbewohner wirklich braucht? Hat er Hunger, will er schlafen oder hat er Schmerzen? Solche Beurteilungen sind für einen Roboter im Spezialfall manchmal einfach, aber generell zu schwierig. KI ersetzt also das Personal nicht, sondern kann es unterstützen.
Thilo Stadelmann
Wie sieht diese Unterstützung aus?
Gerade in der Pflege ist der Personalnotstand riesig. Oft bleibt den Pflegekräften gerade genug Zeit, um die notwendigsten Aufgaben zu erfüllen – intensive Gespräche mit den Bewohnern liegen nicht drin. Hier könnte die KI mittels Spracherkennung unterstützen. Anhand der Sprachmuster ist es auch möglich, Befindlichkeiten oder Krankheiten wie Alzheimer zu erkennen und Auffälligkeiten an das Personal melden.
Das heisst, die Heimbewohner plaudern mit einem Roboter?
Ich glaube nicht, dass sich hierzulande klassische Roboter durchsetzen werden, so wie man sie aus Filmen kennt. Da ist die Hemmschwelle zu gross. Vielmehr werden es Geräte sein, die einem Smartphone oder Tablet ähneln. Oder denken Sie mal an digitale Assistenzsysteme wie Alexa, die bereits heute in vielen Wohnzimmern auf Sprachbefehl Musik abspielen oder den Fernseher einschalten.
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Über Thilo Stadelmann und das CAI
Prof. Dr. Thilo Stadelmann forscht im Bereich der künstlichen Intelligenz und leitet das Centre for Artificial Intelligence (CAI) an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Das CAI ist ein Kompetenzzentrum für die Erforschung und den Einsatz von angewandter KI. Ziel des Zentrums für KI ist es, Innovationen im Bereich der humanen und vertrauenswürdigen künstlichen Intelligenz in der Schweiz zu fördern und Talente anzulocken und auszubilden.
Können ältere Menschen dank KI auch länger zu Hause bleiben?
Wenn jemand wirklich Pflege braucht, muss er auch in Zukunft in ein Alters- oder Pflegeheim. Die Technologie kann aber helfen, diesen Schritt hinauszuzögern. Beispielsweise sorgen Uhren mit Notrufknöpfen oder Sturzsensoren in den eigenen vier Wänden für mehr Sicherheit. Ebenfalls wird die Bedienung der Technologie in Zukunft einfacher sein, auch für Menschen, die nicht mit einem Smartphone oder Computer zurechtkommen. Dadurch können sie selbstständiger leben.
Was meinen Sie damit genau?
Wer zum Beispiel nicht mehr selbst einkaufen kann, kann dies über einen Lieferdienst tun. Heute allerdings muss man dafür ein Handy oder Computer bedienen können und wissen, wie man die Zahlungsdaten eingibt. Künftig werden aber solche Einkäufe mit Spracherkennung möglich sein. Man muss dann dem Gerät nur noch sagen, was man genau braucht.
Das klingt alles harmlos. Doch die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz wirft auch viele ethische Fragestellungen auf.
Auf jeden Fall. Die Gesellschaft muss sich dringend darüber Gedanken machen, wie sie die künstliche Intelligenz einsetzen will. So wäre es beispielsweise fatal, wenn alte Menschen einfach in ein von Robotern geführtes Heim abgeschobenen würden, um dort allein zu sterben. Künstliche Intelligenz kann Leben retten, doch sie kann auch als Waffe missbraucht werden.
Das sind düstere Szenarien.
Ich bin hoffnungsvoll für die Zukunft, dass wir einen Weg finden, die künstliche Intelligenz sinnvoll einzusetzen. Es braucht aber weltweite Regulatorien. Bereits heute gibt es auf EU-Ebene entsprechende Initiativen, die ich sehr begrüsse. Im besten Fall steigert die KI unseren Wohlstand, indem sie uns viele repetitive Aufgaben abnimmt. Es braucht dafür aber Leitplanken, damit nicht nur einzelne Unternehmen, sondern wir alle davon profitieren.
Mehr Automatisierung bedeutet aber auch, dass viele Menschen ihre Arbeit verlieren.
Ich glaube nicht, dass wir alle arbeitslos werden, wenn gewisse Dienstleistungen automatisiert werden. Im besten Fall haben wir dadurch alle mehr Freizeit zur Verfügung und können uns bei materieller Sicherheit den Dingen widmen, die uns wirklich interessieren. Natürlich müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir in Zukunft leben wollen. Zum Beispiel, ob unser Streben nach noch mehr Besitz und Geld wirklich das Wahre ist.
Sie träumen von einer perfekten Welt dank KI?
Das wäre utopisch. Künstliche Intelligenz macht unser Leben nicht perfekt. Es werden neue Probleme auftauchen, aber ich bin auch zuversichtlich, dass es nicht in einer totalen Katastrophe endet. KI eröffnet auch viele Chancen. Zum Beispiel im Kampf gegen den Klimawandel, in der Entwicklung von neuen Energien, im nachhaltigeren Wirtschaften oder der Medizin.
Geht die künstliche Intelligenz auch über den Tod hinaus, indem man Verstorbene damit zurück ins Leben holt?
Das ist wohl eher das Gebiet der Neurowissenschaften. Ich persönlich glaube aber nicht daran. Der Traum vom ewigen Leben durch Technik wird wohl Science-Fiction bleiben.