«Ich sage und mache, was ich will.» Das ist die Definition der gefühlten Selbstbestimmung und wohl auch die Definition von vielen Schweizerinnen und Schweizern.
Diese Definition verkennt jedoch, dass alle bis zu einem gewissen Grad ein «Produkt» der eigenen Umgebung sind. Jeder Mensch ist in irgendeiner Form sozialisiert und deshalb in einem bestimmten Mass in Bezug auf selbstbestimmt gleichzeitig auch fremdbestimmt. Selbstbestimmung ist deshalb in jeder Hinsicht ein relativer Begriff.
Selbstbestimmung hat aber auch mit der Übernahme von eigener Verantwortung zu tun.
Selbstbestimmung ist deshalb ebenso ein Anspruch wie eine Pflicht. Man kann nicht eigenständig, selbstbestimmt handeln und die anderen dafür verantwortlich machen. Man kann nur Selbstbestimmung fordern, wenn man ihr auch nachkommt.
Und schliesslich geht es bei Selbstbestimmung auch um deren Grenzen. In der Schweiz, als Beispiel, geht es um das Zusammenleben mit Nachbarstaaten und der ganzen Welt. Es gibt Themen, wie das Völkerrecht oder der Einfluss der globalen Finanzmärkte, bei denen wir teilweise stark fremdbestimmt sind. Egal, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Diese Grenzen zu kennen und gemeinsam zu akzeptieren, ist eine der grosse Herausforderungen für unser Land und für die Zukunft der Schweiz.
Lassen Sie mich das Thema vorab aus der Brille der in der Schweiz lebenden Menschen anschauen. Wir haben die persönlichen Freiheiten über die letzten 50 Jahre betrachtet systematisch eingeschränkt: Der Sozialstaat diktiert uns, wie wir zu leben haben. Mit 65 bist du pensioniert! Die Krankenversicherung ist obligatorisch.
Das Auto darf man – wenn überhaupt – nur noch dort parkieren, wo offizielle Plätze dafür vorgesehen sind. Wir haben für alles Gesetze erfunden, die unsere persönlichen Freiheiten einschränken. Gleichwohl: Die Schweiz ist weiterhin sehr lebenswert und die Menschen können sich in vielerlei Hinsicht so entfalten, wie sie sich das wünschen, also weitestgehend selbstbestimmt leben.
Aber das Negative an der Selbstbestimmung, nämlich das Fremdbestimmte, schwingt mit: In der Schweiz muss man etwas erwirtschaften, das Leben ist teuer. Man muss sich bilden, um etwas zu werden. Der Selbstbestimmungsgrad hängt nicht unwesentlich von den wirtschaftlichen Möglichkeiten und der sozialen Stellung ab. Auf der faulen Haut liegen, geht gar nicht. Disziplin hat uns den Wohlstand gebracht.
die es versteht, Wohlstand und Natur in Einklang zu bringen. Ich wünsche mir eine Schweiz, deren nächste Generationen den Wohlstand nicht als gegeben betrachten. Man kann nur das investieren und ausgeben, was man hat. Ich wünsche mir, dass die nächsten Generationen mit weniger zufrieden und gleichzeitig wieder einen höheren Grad an Selbstbestimmung erreichen können.
Mir scheint, dass wir, was das Wort Selbstbestimmung anbelangt, an Grenzen kommen oder bereits darüber hinweg sind. Wir diskutieren immer mehr über Formen und Prozesse - über Hüllen - als über Inhalte. Die Formen und Prozesse giessen wir in gesellschaftliche Vorschriften und sind dann erstaunt, dass am Ende das Gegenteil rauskommt, von dem, was man sich vorgestellt hat.
Das ist gefährlich und zeigt sich vor allem bei grossen Mainstream-Themen.
Nehmen wir das Beispiel Digitalisierung: Da geht es in Diskussionen oft nur um Anwendungen, um Tools, und weniger darum, was diese Anwendungen den Menschen, der Gesellschaft, konkret bringen. Wo bringt die Digitalisierung mehr eigene und gesellschaftliche Selbstbestimmung?
In Unternehmen drückt sich dies darin aus, dass neben der Unternehmens- auch noch eine Digitalisierungsstrategie besteht. Als ob die Digitalisierung nicht der Unternehmensstrategie folgen müsste…
Oder ziehen wir die Tausenden Apps hinzu: Sie werden agil nach den Prinzipien der «Customer-, User-, Employee-Experience» etc. entwickelt. In den seltensten Fällen wird jedoch der effektive gesellschaftliche Mehrwert, die sogenannte Social-Experience anvisiert. Wäre dies der Fall, dann hätten wir zum Beispiel im Gesundheitswesen aus den vielen Apps schon längst Daten, die eine künftige Versorgung der Menschen auch auf Basis von Künstlicher Intelligenz ermöglichen würden. Daten, die unsere gemeinsame Weiterentwicklung vorantreiben.
Ein anderes Thema, bei dem die Form vor dem Inhalt steht, ist die Diversität oder Vielfalt: Das ist, insbesondere was die Gender-Diversität anbelangt, von gewissen Kreisen förmlich zu einem «Weltanschauungsthema» emporstilisiert worden. Da liest man, dass die eidgenössische Kommission für Frauenfragen das Wort Assistenz als diskriminierend taxiert. Wie diskriminiert werden sich wohl all jene fühlen, die ein Leben lang einen solchen Job mit Stolz ausgeführt haben oder diesen aktuell ausführen?
Alles muss hinsichtlich gesellschaftlicher Regelungen dem Kriterium der Diversität entsprechen. Dabei hat die Schweiz schon immer eine selbstbestimmte Vielfalt gelebt, insbesondere jene der Sprachen und Kulturen.
Weil die bestehende, gelebte Vielfalt offensichtlich nicht mehr den Kriterien der Aktualität, der Moderne, standhält, braucht es mehr Vorschriften.
Die neuen Kriterien werden dem trägen Volk aufgezwungen, damit wir in der Schweiz endlich modern werden. Ist das unser Verständnis von Selbstbestimmung? Birgt das nicht vielmehr die Gefahr in sich, dass damit anstelle der Diversität vermehrt Uniformität tritt? Weshalb ist die Gender-Diversität so viel wichtiger als andere Vielfalten in unserem Land, wie jene zwischen Stadt und Land, zwischen Jung und Alt oder jene des «Profitierens von unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen unabhängig des Geschlechts»? Weshalb führen wir dazu keine offene Diskussion?
die weniger emotional dem Mainstream hinterherhechelt. Ich wünsche mir eine Schweiz, die mehr von kritischer Auseinandersetzung geprägt ist. Ich wünsche mir Interessengruppen, die ihre Forderungen in die Geschichte dieses Landes einzuordnen verstehen. Und: Ich wünsche mir in den nächsten Generationen mehr kritische Geister, die Ausstrahlung haben und es verstehen, Inhalte vor die Hüllen zu setzen!
Wir sind wohl alle verwöhnte Wohlstandskinder. Es gibt genügend Geld in der Schweiz, es geht nur um dessen Verteilung. Und, gewisse «harte» Jobs überlassen wir gerne den anderen und gestalten den wohlbehüteten Büroalltag, den wir dann aber gleichzeitig mit Stress beklagen.
Wir fordern mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheit, mehr Freizeit und mehr Individualität bei höheren Löhnen. Geht diese Rechnung auch in Zukunft auf? Bringt das alles wirklich mehr Selbstbestimmung? Manchmal habe ich den Eindruck, wir müssten als Schweiz wieder einmal durch eine richtige Krise gehen, so, dass der Geist mit echter, gelebter Selbstbestimmung wieder zu uns zurückkehrt.
Selbstbestimmung heisst, sich selbst gegenüber Verantwortung zu übernehmen. Selbstbestimmung heisst aber auch, aktiv zu einem Gleichgewicht von Nehmen und Geben von Interessengruppen und Generationen beizutragen. Das braucht kritische Selbstbetrachtung und bedingt Demut. Demut gegenüber der eigenen Rolle, Demut gegenüber der Gesellschaft und gegenüber der Geschichte unseres Landes. Man hat den Eindruck, dass Selbstverwirklichung anstelle von Selbstbestimmung tritt. Genau da klafft eine grosse Lücke.
Otto Bitterli hat sich ein Berufsleben lang an der Schnittstelle zwischen Privat- und Sozialversicherung bewegt. Er kommt ursprünglich von der Privatversicherungsseite (Winterthur) und hat dann bei der Sanitas als Geschäftsleitungsmitglied, als CEO und 1 Jahr als Verwaltungsratspräsident (VRP) gearbeitet. Aktuell ist er Berater und in mehreren VR und Boards tätig, unter anderem als VRP der Helvetic Care.
Die jüngeren Generationen fordern Teilzeit, Urlaube aller Art, Lebensarbeitszeit, denken nicht an die Altersvorsorge und ans Sparen. Sie nehmen den Wohlstand als selbstverständlich hin und plädieren aus diesem Zustand heraus für eine bessere Welt mit mehr Selbstbestimmung. Das Hier und Jetzt, die eigene Identität zählt. Sie fordern in Demonstrationen Frieden und realisieren nicht, dass der angestrebte Frieden massive militärische Gegenkraft bedingt. Sie kleben sich an die Strasse und finden, dass dies eine friedliche Aktion und kein gewaltsamer Eingriff sei.
Die älteren Generationen scheinen hingegen den erarbeiteten Wohlstand noch ins Lebensende retten zu wollen. Da wird gerechnet, AHV nachgezahlt, den letzten Tropfen aus der Pensionskasse ausgepresst. Und dann erfolgt der lang ersehnte Rückzug in die eigene Selbstbestimmung. Mit Sorge stellen sie langsam aber sicher fest, dass sie bei aller Selbstbestimmung in gesellschaftlicher Abhängigkeit stehen: Es gibt keinen Teuerungsausgleich, das Klima erwärmt sich und macht zu schaffen und das Vertrauen in den Zugang zu einer als selbstverständlich empfundenen Topmedizin ist am bröckeln.
in der die älteren Menschen integraler Teil der Gesellschaft sind, indem sie einen Wert darstellen. Ich wünsche mir, dass die harten Grenzen von Pensionierungs-Guillotinen verschwinden. Ich wünsche mir, dass die älteren Menschen mit Freude weiterarbeiten, solange Sie können. Ich wünsche mir Arbeitgeber, welche das aus Überzeugung möglich machen, die von Menschlichkeit und nicht ausschliesslich vom finanziellen Faktor des Humankapitals getrieben sind.
Das Vertrauen ins Gesundheitswesen und dessen Leistungsfähigkeit ist für das selbstbestimmte Leben – insbesondere im Alter enorm wichtig. Es ist leider – auch wenn es das Establishment nicht wahrhaben will – in letzter Zeit spürbar gesunken: Fachkräftemangel, Mangel an Hausärzten und Spezialisten, Berichte über Wartefristen, überfüllte Notfallstationen, gegenseitige Vorwürfe, Schwäche bei der Digitalisierung und gleichwohl horrende Kostenschübe prägen das Bild.
in der auch künftig – insbesondere die weniger mobilen und älteren Menschen – weiterhin Zugang zu einem qualitativ hochstehenden Gesundheitswesen haben. Ich wünsche mir eine Schweiz, die endlich darüber diskutiert, wie sie diese Versorgung in Zukunft gemeinsam gestalten und sicherstellen kann. Ich wünsche mir Kantone, die gemeinsam und zusammen mit dem Bund einen Plan (eine Vision) zur dringend notwendigen Transformation des Gesundheitswesens entwickeln und nicht einfach die eigene Planung vorantreiben. Ich wünsche mir eine politische Diskussion, die nicht in der Frage «Steuern- oder Prämienfinanzierung» erschöpft ist. Ich wünsche mir eine Diskussion, in der die Leistung gegenüber den Menschen, den Patienten, im Vordergrund steht.
Die Schweiz steht inmitten von Europa und hat sehr hohe Abhängigkeiten zu den Nachbarstaaten, zur EU und zur ganzen Welt. Erstaunlich, wie selbstbestimmt sich die Schweiz in der Vergangenheit in den Netzwerken der Saaten bewegen konnte. Ob insbesondere die EU die Schweiz auch in Zukunft ihren hohen Grad an Selbstbestimmung leben lässt und ob wir Alternativen haben, wird die Zukunft zeigen. Diese Uhr scheint immer schneller zu ticken.
Gleichzeit proklamieren wir - gerade an unserem Nationalfeiertag - unsere Selbstbestimmung. Wir scheinen dabei zu vergessen, dass wir ein Teil der grossen weiten Welt sind und wesentlich von der Globalisierung der Wirtschaft profitieren. Damit sind eben auch Grenzen der Selbstbestimmung gesetzt.
Selbstbestimmt leben können letztlich wohl nur Menschen, Gesellschaften und Staaten, welche die Grenzen der Selbstbestimmung kennen. Wir können nicht selbstbestimmt Flughäfen aufheben, wenn wir gleichzeitig in Wohlstand leben und alle die ganze Welt bereisen möchten. Wir können nicht Handelsabkommen vereinbaren und dann die Grenzen schliessen, wenn es uns gerade passt. Wir können in einer Angelegenheit nicht «neutral», selbstbestimmt sein, wenn wir gleichzeitig bedroht und auf den Schutz von anderen angewiesen sind.
dass uns die Grenzen der Selbstbestimmung klarer und bewusster sind. Ich würde mir eine offene Diskussion darüber wünschen. Auf dieser Basis könnten wir unsere Selbstbestimmung wieder mehr mit der Solidarität gegenüber der Welt in ehrlichen Einklang bringen.
Persönlich wünsche ich mir, dass helveticcare.ch und deren Community einen kleinen und bescheidenen Beitrag zu einer weiterhin positiven Entwicklung und Erneuerung der wunderbaren Schweiz leisten kann!
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