Am steilen Hang neben unserem Rebberg steht ein Nussbaum. Der Urgrossvater unserer Enkel hat ihn vor 50 Jahren gepflanzt. Trotz allen Unkenrufen von Fachleuten konnte kein Sturm und kein Gewitter ihn zu Fall bringen. Seine Wurzeln krallen sich ins kiesige, steile Erdreich, seine Krone trägt wunderschöne, sattgrüne Blätter und im Herbst viele kleine, harte Nüsse, welche wir mit den Vögeln und Eichhörnchen teilen. Seine Kraft schöpft er vor allem aus seinem dichten Wurzelwerk.
Das ist der Nussbaum im Garten unserer Grosi-Kolunistin.
Unsere sieben Enkel leben in der Gegenwart. Jeden Tag sind sie gefordert, sich im Hier und Jetzt zurechtzufinden. Die Kleinste spürt bei ihren ersten Schritten schon, dass gehen auch stolpern und fallen bedeuten kann. Der Vierjährige weiss genau, dass er vor dem Fussgängerstreifen mit seinem Velo anhalten muss, und mit ihrem ersten Handy testet die Zwölfjährige die Grenzen, welche die Erwachsenen dem Handykonsum setzen.
Abtauchen in längst vergangene Zeiten
Trotzdem interessieren sich unsere Enkel für die Vergangenheit und fragen immer wieder: «Erzähl doch von früher, bitte! Wir möchten noch einmal die Geschichte hören, als du die Milch im Milchkesselchen holen musstest und fast von einem Auto überfahren worden bist.»
Lange lasse ich mich nicht bitten und wir tauchen zusammen ab in längst vergangene Zeiten. «Die Milch mussten damals wir Kinder jeden Tag in der «Milchi» einkaufen. Unser Weg führte über die Hauptstrasse, durch welche noch heute alle Autos durchs enge Bergtal fahren.» - «Was, es gab schon Autos, als du ein Kind warst?» staunt eines der Kleineren.
Jetzt kostenlos anmeldenDie Geschichte mit dem Milchkessel beeindruckt meine Enkel sehr
«Ja, Autos gab es natürlich bereits, aber nur wenige. Schon auf dem Weg zur «Milchi» übten wir eifrig: Es galt ja, den mit Milch gefüllten Kessel auf dem Heimweg möglichst viele Male im Kreis über den Kopf zu schwingen, ohne dass ein einziger Tropfen ausleerte. Der Frigg aus der 4. Klasse hatte das schon 50-mal geschafft! Das spornte meinen Ehrgeiz mächtig an und so übersah ich eines Tages, dass ich mit dem schön rund schwingenden Kessel bereits über die Hauptstrasse auf unser Haus zuging.
Eine schwarze Bremsspur, eine weisse Lache mitten auf der Strasse und ein laut schimpfender Autofahrer bremste meinen Eifer abrupt. Das Donnerwetter meiner Eltern und die Strafe für den Verlust der kostbaren Milch habe ich glatt verdrängt. Aber ich habe nie mehr vergessen, dass Autos gefährlich sein können. »
Über die Autorin
Ruhestand ist für Tonia Sommerhalder (75) aus dem Kanton Aargau ein Fremdwort. Mit ihrem Mann Ruedi kümmert sich die ehemalige Lehrerin und Gemeinderätin um Haus, Garten und Schafe und organisiert in einer umgebauten Fabrik kulturelle Veranstaltungen. Regelmässig ist bei den Sommerhalders auch Kinderlachen zu hören, denn die sieben Enkel kommen gerne zu Besuch. Und wenn es mal still ist, dann sind Tonia Sommerhalder und ihr Mann vielleicht mit dem Wohnmobil unterwegs.
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Das Verständnis von Geschichte ist wichtig
Solche Geschichten machen unseren Enkeln mächtig Eindruck und führen sie zurück in die Vergangenheit, zurück zu ihren Wurzeln. Das Verständnis von Geschichte ist wichtig, damit wir die Gegenwart begreifen, auch in der Familie, im Baum der Generationen. Unsere alten Geschichten sind ein Teil der Geschichte unserer Kinder und unserer Enkel. Im besten Falle schöpfen sie Zuversicht aus dem Wurzelwerk der Vergangenheit, wie wir selber auch, als wir noch Kinder waren.
Ich erinnere mich noch gut, als ich meine Urgrossmutter als kleines Mädchen immer wieder fragte: «Erzähl doch bitte, wie es war, als du bei einem Bauern als Verdingkind arbeiten musstest und der Hof abbrannte!» Ihre Erzählungen aus der Zeit der 1870er Jahre beeindruckte mich damals sehr. Ich tauchte mit ihr ab in die Vergangenheit, tief ins Wurzelwerk des Baums der Generationen.
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