Helveticcare.ch hat vergangene Woche einen Artikel «Bundesrat Berset und die Krankenkassen: the show must go on…» publiziert. Dieser hat in den Kommentaren auf Facebook zu einer sachlich ungerechtfertigten Diskreditierung von Bundesrat Alain Berset geführt. Wir zeigen auf, dass der Bundesrat in Bezug auf die aktuelle Prämienentwicklung weitestgehend «ein Minister ohne Portefeuille» und deshalb der falsche Adressat für solche Kommentare ist. Dazu bedingt es allerdings der Kenntnis einiger Grundlagen im schweizerischen Gesundheitswesen:
Die Frage nach der Schuld für die Kostenentwicklung ist schnell beantwortet: alle und niemand! Das ist wohl das grösste Problem in Bezug auf die weitere Entwicklung der Gesundheitskosten und führt zu einem jährlichen und nicht endenden «Schwarz-Peter-Spiel».
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Stellen Sie sich vor, Sie führen ein 90-Milliarden-Unternehmen und Sie wissen nicht genau, wo welche Kosten anfallen, und Ihre Mitarbeitenden sind alles Chefinnen und Chefs, die machen, was sie wollen. Da kann aktuell noch so viel über Bottom-up-Steuerung und holistische Führung gesagt und geschrieben werden: Das Chaos ist vorprogrammiert! So etwa muss sich wohl Bundesrat Alain Berset fühlen.
Und genau so läuft unser Gesundheitswesen – tagein, tagaus. Der zuständige Bundesrat muss aufpassen, dass er oder sie nicht zur reinen «Hinhaltefigur» wird. Eine neue Gesundheitsministerin oder ein neuer Gesundheitsminister tut gut daran, die bei diesem Spiel einzunehmende Rolle sich sehr gut zu überlegen.
Grundsätzlich ist das Gesundheitswesen von der sogenannt subsidiären Zuständigkeit geprägt. Dies bedeutet, dass in erster Linie die Kantone zuständig sind und erst in zweiter Linie der Bund.
Grob umrissen ist der Bund für alle nationalen Aufgaben zuständig: Dazu gehören nationale Gesetzgebung, Zulassung und Preise von Medikamenten, Zulassung von neuen Leistungen, Aufsicht über die Krankenversicherung, Genehmigung nationaler Tarifverträge oder Prämienverbilligung.
Die effektive Steuerung liegt bei den Kantonen – kantonale Gesetzgebungen, Zulassung von Ärzten, Eigentümerin der öffentlichen Spitäler, Planung, Finanzierung der Spitäler oder Rekursinstanz beim Nicht-zustande-Kommen von Tarifverträgen zählen dazu.
Sowohl auf kantonaler wie auf eidgenössischer Ebene ist in unserem Staat das Prinzip der Gewaltenteilung umgesetzt. Das heisst, Gesetze (Legislative) werden vom Parlament (Kantons-, National- und Ständerat) gemacht, die Rechtsprechung (Judikative) ist vollkommen unabhängig. Bundesrat und Regierungsrat sind «lediglich» für die Umsetzung (Exekutive) zuständig.
Unser Leben basiert auf Gesetzen, die pro Industrie entstanden sind. Egal, wie viel aktuell über Ökosysteme und das Aufbrechen von Industrien gesprochen wird: Die Gesetze sind von der jeweiligen Industrie geprägt. Das bedeutet zum Beispiel, dass das Bankengeschäft in anderen Gesetzeswerken geregelt ist als das Versicherungsgeschäft.
Wenn es dann zum Beispiel um eine Neuregelung der Finanzberatung (Fidleg) geht, betrifft das beide Industrien. Entsprechend muss sowohl die Banken- wie die Gesetzgebung des Versicherungsgeschäftes angepasst werden.
Die Krankenkassen sind aus der Brille der Gesetzgebung betrachtet, keine in sich geschlossene Industrie. Sie bewegen sich für die Grundversicherungen im Rahmen des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) und des entsprechenden Aufsichtsgesetzes (KVAG). Aufsicht ist das Bundesamt für Gesundheit (BAG), angesiedelt und geführt vom Eidgenössischen Departement des Innern (EDI). Es besteht für die Krankenkassen ein kalkulatorisches Gewinnverbot.
Für die halbprivate und private Versicherung (Zusatzversicherungen) sind die Krankenversicherer Teil des Versicherungsvertrags- (VVG) und Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG). Aufsicht ist die unabhängige Finanzmarktaufsicht (Finma), welche lose mit dem Eidgenössischen Finanzdepartement verbunden ist. Wie in jeder Industrie, ist die Möglichkeit Gewinne erzielen zu können, für diesen Zweig ein gewichtiger Pfeiler.
Wenn die Finma, wie auf helveticcare.ch mehrfach thematisiert, Druck auf die Zusatzversicherer ausübt und eine Neuregelung der Spital- und Arztverträge verlangt, dann betrifft dies Spitäler und Ärzte, welche sich bis anhin weitestgehend «nur» im kantonalen Gesetzgebungs- und Gesundheitsumfeld befunden haben.
Es trifft auch Versicherte, die eine Grund- und eine Zusatzversicherung haben und diese schlecht voneinander abgrenzen können und wollen: Denn was, wo und wie genau versichert ist, ist gar nicht so leicht zu unterscheiden. Genau deshalb haben viele eine Zusatzversicherung abgeschlossen, damit sie sich genau um diese Grenze nicht kümmern müssen.
Betroffen sind sie dann aber sehr konkret: ambulante Operationen, vertragslose Zustände zwischen Versicherer und Spital, nicht mehr bezahlbare Prämien im Alter etc. Alles Themen, über welche helveticcare.ch informiert.
Ein weiteres interessantes Beispiel im Kontext der Gesetzgebung der Krankenkassen ist die sogenannte Branchenvereinbarung (die Regelung des Verkaufs). Sie tangiert die Grund- und Zusatzversicherungen und weitere Industrien wie Callcenter (Cold Calls), die Telekommunikation (Sekundennummer) und die Vermittler (Entschädigung). Da ist geplant, die Branchenvereinbarung über einen sogenannt «allgemein verbindlichen Bundesbeschluss» umzusetzen. Diesbezüglich hat das Parlament den Bundesrat ermächtigt, einen solchen Beschluss im Rahmen von Vorgaben erlassen zu können.
Aktuell kommt es zwischen den Spitälern, Ärzten und den Versicherern praktisch in der ganzen Schweiz zu keinen Verträgen in der Grundversicherung (KVG) per Januar 2024. Die Spitäler und Ärzte fordern Erhöhungen und Teuerungen, welche die Versicherer nicht zu tragen gewillt sind. Diese Forderungen der Ärzte und Spitäler begründen den Hauptteil der von helveticcare.ch prognostizierten Prämienerhöhungen von durchschnittlich 7 bis10 Prozent per Januar 24.
Bundesrat Berset versucht - wohl vergebens - die Kantone davon zu überzeugen, dass diese Kosten nicht einfach auf die Krankenkassen und die Prämienzahlerinnen und Prämienzahler abgewälzt werden können. Diese sind gemäss Berset vielmehr von den Kantonen – sprich über die Steuern der Kantonseinwohnerinnen und Kantonseinwohnern – zu tragen.
Über diese Argumentation kann man geteilter Ansicht sein und wohl nächtelang streiten. Die Kantone wären an sich für den Strukturwandel zuständig, sprich die Anpassung der Infrastrukturen an veränderte Verhältnisse und Bedürfnisse. Demgegenüber liegen die Anpassungen der verbesserten Entschädigung der Pflege in einer eidgenössischen Abstimmung begründet. Zudem: In einzelnen Regionen (z. B. Kanton Aargau) werden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler aktuell bezüglich zu finanzierender Spitaldefizite schon genug zur Kasse gebeten.
Da bei vertragslosen Zuständen die Kantone die abschliessende Rekursinstanz sind, ist die Wahrscheinlichkeit, diese Kosten und Teuerungen auf die Prämienzahlerinnen und Prämienzahler abzuwälzen, enorm hoch. Den Krankenkassen bleibt bei ihrer Prämieneingabe per Ende Juli nichts anderes übrig, als diese Kosten einzukalkulieren. Man geht da insgesamt von gut 4 Prozent der von helveticcare.ch geschätzten durchschnittlichen Prämienentwicklung von 7 bis 10 Prozent auf 2024 aus.
Was die Prämienerhöhungen per Januar 24 anbelangt, ist Bundesrat Berset definitiv der falsche Adressat für abschliessende Schuldzuweisungen. Wenn schon, dann müssten aus der Optik der Prämienzahlerinnen und Prämienzahler wohl die kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren hinhalten.
Abschliessend sind deshalb wohl auch in diesem Jahr «niemand und alle» für eine Schuldzuweisung geeignet. Das ist für die Bürgerinnen und Bürger, die wieder einmal kräftig mehr bezahlen müssen, sehr unbefriedigend. Es bleibt nichts anderes, als der eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht mittels wahllosen Kommentaren Ausdruck zu verleihen.
Zu hoffen bleibt, dass es der neuen Gesundheitsministerin oder dem -minister gelingt, die Mehrfachrollen der Kantone in Schranken zu weisen. Dies wäre für einen modernen Staatsbetrieb, der seit Gründung auf dem Prinzip der strikten Gewaltentrennung basiert, endlich auch im Gesundheitswesen eine elementare Grundlage für die Zukunft.
Otto Bitterli hat sich ein Berufsleben lang an der Schnittstelle zwischen Privat- und Sozialversicherung bewegt. Er kommt ursprünglich von der Privatversicherungsseite (Winterthur) und hat dann bei der Sanitas als Geschäftsleitungsmitglied, als CEO und 1 Jahr als Verwaltungsratspräsident (VRP) gearbeitet. Aktuell ist er Berater und in mehreren VR und Boards tätig, unter anderem als VRP der Helvetic Care.
Bildquelle: TUBS via Wikimedia Commons | unveränderte Version vom 16:15, 9.1. 22
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